Die verletzte Eitelkeit der Medienleute ist greifbar, wenn es um den Brexit geht. Aus diesen Motiven heraus ist auch verständlich, weshalb in Deutschland ein Trommelfeuer auf das Publikum niederging. Der Ton war unterschwellig, aber gut vernehmbar: Theresa May hat die Quittung für den Brexit bekommen, wir hatten recht, sie hatte unrecht, die Briten wollen nicht aus der EU. Corbyn ist der große Sieger. Am Rande natürlich: Hängepartie, weil kein Lager auf die anvisierte Mehrheit kam.
Spätestens hier nützt es, sich einmal die Ergebnisse und Statistiken bar jedweder Deutung der etablierten Medien genauer anzusehen und diese mit der Unterhauswahl von 2015 zu vergleichen. Zuerst einmal stimmt es als solches nicht, dass Theresa May per se verloren hätte. Die Besonderheiten des britischen Wahlrechts werden deutlich, wenn man sich ansieht, dass die Tories bei den Unterhauswahlen landesweit 2,3 Millionen Stimmen dazugewonnen haben; das sind 5,5 Prozentpunkte mehr als bei der letzten Wahl. Labour hat jedoch 3,5 Millionen Stimmen mehr als 2015 errungen, was einen Anstieg von 9,5 Prozentpunkten entspricht.
Da es aber anders als in Deutschland kein Verhältniswahlrecht im Vereinigten Königreich gibt, sondern ein Mehrheitswahlrecht in den einzelnen Kreisen, entscheidet letztendlich das jeweilige Kandidatenrennen vor Ort, ob eine Partei Sitze dazugewinnt oder verliert. Hier spielte aber nicht die Schwäche der Konservativen eine Rolle, sondern der Einbruch von Nigel Farages UKIP, die vorher im Labour-Milieu gewuchert hatte. Dies kann man zweierlei interpretieren: nämlich als „Abstrafung“ des Brexit, wie es womöglich die Quantitätspresse täte. Oder eben genau andersherum: nämlich, dass die UKIP mit dem Brexit ihren Sinn verloren hat und damit obsolet wurde. Der Schritt zur „England-Partei“, die sich neben den walisischen und schottischen Regionalisten bzw. Nationalisten herausbildet, ist nicht gelungen. Die UKIP wurde vernichtet, nichts ist mehr von ihr übrig.
Wo wir bereits bei der Scottish National Party wären, die ebenso herbe Verluste verkraften muss. Sie fiel von 1,4 Millionen Stimmen ab auf 977.000 Stimmen: ein Kollaps. Spätestens hier sieht man, dass die „Brexit-Erklärung“ nicht zieht. Die SNP war immer gegen den Brexit, Unabhängigkeitswünsche vom UK wurden schließlich in Brüssel hellhörig vernommen, als man das Votum nicht akzeptieren wollte. Warum sollten die so EU-freundlichen Schotten plötzlich zu einem Drittel der eigenen Partei den Rücken kehren? Schottische Wahlkreise fielen dabei nicht nur an Labour, das früher im Norden dominierte, sondern auch an die sonst so verhassten Tories von Premierministerin May. Das ist eher als Signal zu deuten, dass auch einige Schotten mit dem Brexit-Kurs zufrieden sind, denn sonst hätten diese geradlinig für Corbyn gestimmt. Schottland, das noch vor zwei Jahren bis auf drei Wahlkreise SNP-gelb war, ist nun dreigeteilt. Wie bereits häufiger erwähnt: der Brexit hat eine Unabhängigkeit Schottlands eher unwahrscheinlicher als wahrscheinlicher gemacht. 2014 wäre dies möglich gewesen, ein neues Referendum würde wohl mit noch größerer Mehrheit abgeschmettert. Die Schotten hatten ihre Chance. Ihre Sonderwünsche haben seit 2016 das politische Klima vergiftet und damit eine wirkliche Unabhängigkeit zunichte gemacht. Was Alexander Salmond als SNP-Vorsitzender in 25 Jahren aufgebaut hat, zerstörte Nicola Sturgeon in zwei Jahren.
Trotz allem bleibt die SNP aufgrund des Wahlrechts immer noch massiv überbewertet. Mit nur 3 % der Gesamtstimmen erhält sie 35 Sitze. Zum Vergleich: die Liberaldemokraten erlangten landesweit über 7 %, konnten sich aber nur 12 Sitze sichern. Das ist mehr als beim katastrophalen Ergebnis der letzten Wahl, aber weiterhin nur ein Abglanz dessen, was die britischen Liberalen während ihrer Koalitionsphase mit den Konservativen zu Zeiten Camerons vorweisen konnten. Auch hier wieder ein Paradoxon: landesweit verlieren die Liberaldemokraten nochmals an Stimmen, gewinnen aber in vier Kreisen ein Mandat hinzu.
Schon beachtlich, dass, wenn diese Systematik für Sozialisten und Linksliberale funktioniert, von den Medienhäusern keinerlei Kritik zu hören ist; gewinnt auf diese Weise ein Republikaner in Amerika, wird sogleich das gesamte Wahlsystem der USA infrage gestellt.
Dass May sich verzettelt hat, steht außer Frage. Der Verlust der absoluten Mehrheit ist ein harter Schlag, aber es ist kein vollkommener. Denn selbst wenn sich alle Parteien in einer Koalition gegen die Konservativen vereinigten, so hätten diese doch keine Mehrheit.* Sollte es zu einer Minderheitsregierung kommen, ist fraglich, warum die ausgerechnet unter Labour-Führung zustande käme: traditionell stellt die größte Fraktion im Parlament den Premier. Überdies ist ein geeinter Tory-Block immer noch stärker als eine Koalition aus Labour mit vielen kleinen Parteien divergierender Interessen. Zu einer Mehrheit reichte den Konservativen nur eine Koalition mit den Liberaldemokraten wie unter Cameron im ersten Kabinett. Dazumal konnten die „Libs“ vor Kraft kaum laufen, seitdem haben sie 40 Sitze verloren. Noch schließen sie eine Koalition aus Protest gegen den Brexit aus – allerdings ist die Standhaftigkeit kleiner liberaler Parteien in Europa legendär.
Bliebe noch ein Wort zu Corbyn, der von der deutschen Presse hochgeschrieben wird. Der Mann ist nicht nur Sozialist, sondern im Herzen Kommunist, zählt Castro und Chavez zu seinen Vorbildern, pflegt Kontakt mit der palästinensischen Hamas, nannte den Tod Osama bin Ladens eine „Tragödie“ und förderte Antisemiten. Üblicherweise zählen solche Leute eher zu den Außenseitern, die man um jeden Preis meiden sollte.
Was für eine Aufholjagd! Gratulation an @jeremycorbyn und @UKLabour!
— Martin Schulz (@MartinSchulz) June 9, 2017
Habe gerade mit Jeremy Corbyn telefoniert. Wir haben schnelles Treffen vereinbart.
— Martin Schulz (@MartinSchulz) June 9, 2017
Üblicherweise.
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*Fairerweise sei hinzugefügt: insgesamt hätte das Anti-Tory-Lager nach absoluten Stimmen die Mehrheit.