Schließlich wurde alles verdächtig

23. März 2017
Kategorie: Europa | Freiheit | Fremde Federn | Historisches | Ironie | Italianità und Deutschtum | Medien | Zum Tage

Egon Friedell schreibt im ersten Kapitel („Die Tiefe der Leere“) seines vierten Buches der „Kulturgeschichte der Neuzeit“ über die „Altteutschen“:

In Deutschland gedachte man, unter dem frischen Eindruck der Befreiungskriege, des fremden Unterdrückers zunächst mit teutonischem Haß: die politischen Schlagworte hießen »Freiheit«, »Einheit« und »Deutschheit«; es sollte sich aber bald zeigen, daß es nicht bloß welsche Tyrannen gab. 1815 entstand in Jena die erste Deutsche Burschenschaft; ihr folgte drei Jahre später die »Allgemeine Deutsche Burschenschaft«, »gegründet auf das Verhältnis der teutschen Jugend zur werdenden Einheit des teutschen Volks«, als Versuch, wenigstens unter den Studenten eine deutsche Einheitsfront herzustellen: ihre Farben waren schwarz-rot-gold, nach dem Lützowschen Freikorps. »Zufrieden mit dem, was ihnen der Schneider an Deutschheit verlieh«, wie Immermann sagte, legten die Burschenschafter den Hauptwert auf die »Wichs«, eine Tracht, die sich »altteutsch« nannte: geschlossener verschnürter Rock, meist schwarz, breiter offener Hemdkragen, farbige Schärpe, federgeschmücktes Barett aus schwarzem, violettem oder rotem Samt mit goldener Borte und Eichel, dazu langwallendes Haar und am Gürtel ein republikanischer Dolch mit Totenkopf. Sie nannten die Greise »Nachburschen«, die Professoren »Lehrburschen«, das Vaterland »Burschenturnplatz«, die Universität »Vernunftturnplatz«, verschworen Raufen, Saufen und Tanzen und verachteten Weiber und Juden. Wenn sie einem stutzerhaft oder sonstwie unteutsch angezogenen Menschen begegneten, so bildeten sie um ihn einen Halbkreis und schrien »Eh! Eh!« Auf einem Fest, das sie am 18. Oktober 1817, dem Jahrestage der Reformation und der Leipziger Völkerschlacht, am Fuße der Wartburg veranstalteten, entzündeten sie ein Sonnwendfeuer und verbrannten darin feierlich einen hessischen Zopf, einen österreichischen Korporalstock, einen preußischen Gardeschnürleib und einige reaktionäre Bücher. Schon dies erregte bei den Regierungen erhebliche Bedenken, die auf dem Mächtekongreß zu Aachen einer angelegentlichen Erörterung unterzogen wurden.

Am 23. März 1819 ereignete sich aber etwas Ernsteres. Ein Burschenschafter namens Karl Ludwig Sand drang in Kotzebues Wohnung in Mannheim und stieß ihm mit den Worten »hier, du Verräter des Vaterlands!« den Dolch ins Herz. Kotzebue war russischer Staatsrat und als solcher natürlich konservativ gesinnt, was er in seiner Zeitschrift, dem »Literarischen Wochenblatt«, nicht verhehlte; einen Grund, ihn umzubringen, hätte man aber höchstens in seinen miserabeln und gemeinen Theaterstücken finden können. Eine Verschwörung, der Sand angehört hätte, konnte nicht nachgewiesen werden; gleichwohl ergriff die Heilige Allianz die Gelegenheit, um in einer neuerlichen Ministerkonferenz die berüchtigten »Karlsbader Beschlüsse« zu fassen: Bücher und Zeitungen wurden unter Zensur, die Universitäten unter strenge Aufsicht gestellt, alle Burschenschaften und Turnerverbände verboten. Damit setzten die grausamen Demagogenverfolgungen ein, deren Organ die »Zentraluntersuchungskommission« in Mainz war. Sie trafen jedermann, der in irgendeiner Beziehung zur deutschnationalen Bewegung gestanden hatte: einen waschechten Patrioten wie Vater Jahn, der sechs Jahre lang von einer Festung zur andern geschleppt wurde, so gut wie den eingefleischten Monarchisten Ernst Moritz Arndt, der seiner Professur enthoben wurde; dasselbe widerfuhr dem hervorragenden Bibelforscher de Wette, weil er an die Mutter Sands einen Trostbrief geschrieben hatte. Schließlich wurde alles verdächtig: demokratischer Schnurrbart, carbonarihafter Filzhut, revolutionäres Reckspringen, ja sogar ein sandfarbener Flaus.

Die unverständige und unmenschliche Härte, mit der der »Aufruhr« im gesamten deutschen Bundesgebiet unterdrückt wurde, läßt sich nur aus einer Art Angstneurose erklären, die die regierenden Kreise erfaßt hatte: Gentz zum Beispiel zitterte, wenn er in einer Gesellschaft einen Bart erblickte, und konnte, wie er selbst versicherte, beim Anblick eines blanken Messers in Ohnmacht fallen. Und dazu kam der Unwille über das bübische und kulturlose Treiben der Jahnriegen. Denn alles vermag die Menschheit zu verzeihen: Torheiten, Lügen, Laster, ja sogar Verbrechen, nur eines nicht: die Taktlosigkeit.

Teilen

«
»