Der tiefe Blick in die dunkle Leere

6. Dezember 2016
Kategorie: Europa | Freiheit | Ironie | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Medien | Non enim sciunt quid faciunt | Regionalismus | Zum Tage

Es ist eine merkwürdige, politische Stille. Gerade für Italien. Renzis Rücktritt kam nach dem verlorenen Referendum so schnell, dass Volk, Politik und Medien davon so überrollt wurden, dass alles derzeit in einer für italienische Verhältnisse eigenartigen Leere schwebt. Im machiavellistischen Politgeschacher der opportunistischen Kastenvertreter ist man tagtäglich gewohnt, Skandale und Machtspiele zu beobachten; aber an diesem 5. Dezember, dem Tag nach dem Verfassungsreferendum, das zum „Renzirendum“ mutiert war, blieben die Zeitungen und Fernsehsendungen in ihrem Schlagzeilenwahn und ihrer Hast nach Neuigkeiten ungewöhnlich farblos.

Italien stand mit dem Referendum an einer Klippe, hat nun den Schritt in den Abgrund getan – aber der freie Fall scheint nicht aufzuhören. Kein Knall, kein Boden. Niemand scheint am Montag einen Plan B besessen zu haben – und das, obwohl der Ausgang der Abstimmung seit einem halben Jahr zu „No“ tendierte, und seit einem Monat nahezu sicher war. Renzi hat seit Oktober gewusst, was auf ihn zukommt, er hat mit allem gekämpft, was er aufbringen konnte. Man mag zu ihm stehen wie man will, einzig das bleibt eine Parallele zur Wahl in Österreich: auch in Italien kämpfte ein Mann gegen eine breite Koalition, dazu gegen Leute im eigenen Lager, auch gegen die eigenen Medien (darunter die sonst rote Repubblica, der Renzi nicht rot genug ist). Es war ein merkwürdiges Band: eine Koalition aus der rechtsregionalistischen Lega Nord und dem linkspopulistischen Movimento 5 stelle; aus den nationalistischen Fratelli d’Italia und den Kommunisten; aus Universitätsprofessoren und Beamten, die sonst immer für den Partito Democratico halten, sowie Forza Italia und Silvio Berlusconi, die ursprünglich diese Reform mit ausgedacht, angedacht und dann bekämpft hatten.

Auf diesen Seiten kam nicht selten eine Ambivalenz zum Tragen, wenn es um Renzi ging; aber man soll fair bleiben. Die Zeitgeschichte bewertet ihn ungerechter, als man denken mag. Wenn man Hofer zugesteht, dass seine Person gegen alle Widerstände doch mehr als 40% erreichte, so ist das unter umgekehrten Vorzeichen auch bei Renzi zu diagnostizieren. Ein Symptom unserer Zeit: nicht nur auf der „populistischen“ Seite, sondern auch auf der anderen Seite kann es dazu kommen, dass eine breite Koalition gegen einen alleine antritt – die Folgen der um sich greifenden Manichäerisierung des Wahlkampfes in Schwarz und Weiß.
Und anders als gewisse andere Politiker(innen), die ihren Zenit längst überschritten haben, hat Renzi Nägeln mit Köpfen gemacht. Gegen 60% kann man nicht mehr anregieren. Ende. Noch um Mitternacht war die Entscheidung gefallen; am Montag trat er bei Präsident Mattarella vor. Der gibt ihm einen Aufschub zur Entlassung – bis Freitag.

Die Totenstille, das Unwissen über die Zukunft, die taktischen Szenarien, die jetzt durchgespielt werden – all dies hätte man sich denken können. Warum geschah es nicht? Womöglich, weil einige nicht nur befürchteten, sondern auch hofften, dass Renzi bleiben würde. Nicht nur auf der Seite des „Si“, sondern auch auf jener des „No“. Weil auch die Lega und Grillo wussten, dass die Forderung nach Neuwahlen eine Forderung bleibt, man aber nicht den Ausschlag gibt. Denn: Italien braucht ein neues Wahlrecht. Das derzeitige ist illegal. Das Votum hätte das jetzige bestätigen sollen; heißt, vor Neuwahlen braucht es ein neues Gesetz. Das erste Paradoxon dieses Referendums. Denn ausgerechnet die Grilini kündigten jetzt an, bei dieser Gesetzgebung, die sie bitter bekämpften, schnell zu helfen, wenn es denn Neuwahlen bedeutete.

Der Morgen danach und kein Konzept. Spätestens wenn die Medien Berlusconi ins Spiel bringen, bedeutet dies, dass niemand so recht weiß, was er senden soll. Die Meldung ist natürlich eine Farce: seine Partei, die Forza Italia, krebst bei 10% herum. Da ist im rechten Lager selbst Matteo Salvinis Lega Nord mittlerweile stärker. Und auch die Fratelli d’Italia – wenn auch mit weniger als 5% vertreten – würden eher Salvini, als dem Cavaliere die Stange halten; das geschah bereits in Rom bei der Bürgermeisterwahl, wo bereits ein Zusammengehen der Rechten an Berlusconis Starrsinn scheiterte. Der Mann hat keinen Rückhalt – weder bei den einstigen Verbündeten, noch in der eigenen Partei. Aber selbst vereint dürften FI, Lega und FdI als Parteienbündnis nicht über 30% kommen.

Renzis Partito Democratico dagegen ist geschwächt. Nicht nur durch das Referendum, und wegen möglicher Verluste bei den Neuwahlen. Die PD hat niemanden, der Renzis Popularität besäße. Schon kommen die alten Linksaußenkader wieder hervor, rote Gespenster aus der Vergangenheit, die keiner will, aber die selbst glauben, sie seien unentbehrlich; der Ex-PD-Chef Bersani liegt da ganz vorne dabei, der den Aufstieg Renzis immer misstrauisch beäugt hat, und den jungen Florentiner bereits bei der Wahl 2013 verhinderte (und es ist ein offenes Geheimnis in Italien, dass, wenn Renzi 2013 bereits angetreten wäre, dieser der PD mehr Stimmen gebracht hätte als Bersani; wenn nicht gar den Wahlsieg).

Neben den alten Kadern im PD, welche die Positionen zurückerobern wollen, die ihnen Renzi nahm, hört man nun öfters den Namen des Finanzministers Pier Carlo Padoan in der Runde. Man spekuliert über ihn als Nachfolger. Padoan ist eine durch und durch farblose Gestalt, parteilos, „Wirtschaftsexperte“, und wäre eine Neuauflage der Letta-Regierung, welche Italien vor Renzi ein Jahr lang regiert hatte, ohne irgendetwas vorweisen zu können. Reine Verwaltung – und Bereicherung. Padoan war übrigens beim IWF und hat die Wirtschaftstheorien Keynes‘ aus marxistischer (!) Perspektive kritisiert. Er ist zudem der Anhänger des Polen Michał Kalecki, der eine „neo-marxistische“ Wirtschaftstheorie entwickelte. Muss ich weiter ins Detail gehen?

Auch der Name von Pietro Grasso tauchte heute mehrmals, wenn auch seltener auf. Der Sozialdemokrat ist Präsident des Senats und galt einige Zeit als Favorit für das Amt des Staatspräsidenten (und war es interim sogar für drei Wochen). Bei ihm würde es ähnlich laufen: regieren um jeden Preis, ohne Aussicht auf Reformen, Verschleppung der Probleme bis 2018. Neben Pfründen fürchten die Genossen auch um den Monte dei Paschi. Die Bank ist eng mit der italienischen Linken verzahnt und droht die Pleite; die Rettung des Prestige- und Traditionsinstituts ist daher eine „persönliche Angelegenheit“ für einige Parteimitglieder. Würde die Regierung jetzt stürzen, könnte das die Bankenrettung gefährden.

Neben einem Premier aus den Reihen des PD bestände die Option einer „technischen“ Regierung, die vom Präsidenten eingesetzt wird. Hört sich anfangs besser an, als es wirklich ist: im Corriere della Sera zirkulierte tatsächlich das Szenario, die EU könnte Mario Draghi, den Chef der EZB, nach Rom entsenden, um dort eine Regierung aus „Experten“ bis zum Ablauf des Legislatur zu führen. Dasselbe Spiel hatte es bereits unter Mario Monti gegeben, der ebenfalls als „Finanzexperte“ und Mitglied von Goldmann Sachs vielen Italienern als wenig vertrauenswürdig galt. Um es härter auszudrücken: einigen erschien Monti als Marionette der EU, als Statthalter, um die Politik der Troika durchzusetzen, wie dies in Griechenland der Fall war. Der gesamte Aufstieg Grillos und der Erdrutschsieg des Movimento 5 stelle, der 2013 aus dem Stand stärkste Partei (25%) wurde, ist einzig den Monti-Jahren zu verdanken. Eine zweite „Mario“nette würde in Italien die Wähler erst recht auf die Barrikaden treiben. Dann dürfte Grillo, trotz Dilettantismus seiner Entourage und der „anti-populistischen Front“ der EU Wahlsiege einfahren, wie man sie in Italien zuvor noch nicht kannte.

Mit einer Interimsregierung ständen Italien jedenfalls anderthalb verlorene Jahre bevor. Das fühlen auch die Befürworter der Reform, die verloren haben. Die Opposition und das Resultat waren so massiv, dass allen bewusst geworden ist, dass es in diesen Tagen nicht nur um Renzi ging, wie gerne kolportiert wird; es ging ums Grundsätzliche. Ein Konglomerat aus sachlichen Überlegungen, Emotionen, pro- und kontra-Renzi, Verdruss über die EU (repräsentiert von Schäuble, der es sich nicht nehmen ließ, sich in das Referendum einzumischen), Verdruss über die Reform prinzipiell, „Wutbürgertum“, und Abrechnung mit den Eliten. Kurz: es war eine rote Karte gegen das gesamte politische System, das kaum noch Halt besitzt. Womöglich auch deswegen eine betont patriotische Rede Renzis bei seinem Rücktritt, welche die Identität Italiens, des „schönsten Landes der Welt“ in den Vordergrund rückte.

Und Grillo mit dem M5s, die Wortführer des „No“ waren, und als heimliche Sieger neben der Lega und Salvini gelten? Die hoffen, wie so viele, auf eine Neuwahl, die alles lösen wird. Grillos Partei könnte stärkste Kraft werden, und dank des Wahlrechts, das eine Prämie für das stärkste Bündnis ausspricht, im Abgeordnetenhaus die Mehrheit gewinnen. Der Senat hingegen, jene Kammer, die nach Verhältniswahl bestimmt wird, könnte dem M5s zum Verhängnis werden. Dort könnten die übrigen Parteien die Grillini blockieren – mithilfe jener Blockadetechnik des Senats, die beim Referendum zur Disposition stand, und vom M5s verteidigt wurde. Wieder ein Paradoxon.

Und die EU? Derselbe Schulz, der gestern noch Österreich so deutete …

… aber das italienische Referendum so bewertete:

Mehr Selbstbetrug geht nicht. Das Referendum galt auch als „Angleichung“ an europäische Verhältnisse, indem die zweite Kammer, wie in vielen anderen EU-Staaten, geschwächt werden sollte. Auch Gesetze aus Brüssel hätten so gegen den Widerstand der Regionen viel schneller durchgepeitscht werden können. Ironie, dass das „Si“ in Südtirol die meisten Stimmen bekam – und man so ganz konträr zum Regionalismus Kompetenzen an den Zentralstaat, an Rom abgegeben hätte! Wieso? Weil die Südtiroler Volkspartei in Renzis Regierung sitzt, um die eigene Macht fürchtete, und mächtig Propaganda machte, um die Landsleute auf Linie zu bringen. Was für eine Farce.

Letzte Einschätzung? Neuwahlen wäre für alle Lager der beste Weg; nicht zuletzt weil dieses „No“ mehr betrifft als die Verfassung, und als solches auch immer verstanden wurde. Wenn von 107 Provinzen nur 12 mehrheitlich ein „Si“ abgeben, dann ist das mehr als nur ein persönliches Desaster von Matteo Renzi, so, wie es jetzt viele verstanden wissen wollen, die den schwarzen Peter weitergeben. Populismus war in Italien schon in Mode, bevor es „cool“ wurde. Gegen die Wucht des M5s von Beppe Grillo nehmen sich alle Parteien des Anti-Establishements in Europa geradezu bescheiden heraus. Und womöglich wird dieser Kampf nicht vorbei sein, bevor nicht die Grillini selbst an der Macht waren, und ein Referendum über den Verbleib in der Euro-Zone durchgesetzt haben.

Denn das zeichnet das politische System Italiens aus: hier wird nicht 12 oder 16 Jahre lang regiert. Regierungen kommen und gehen. Vielleicht ist es in zwei Jahren die Regierung des Movimento 5 stelle, die dann stürzt. Wer weiß das schon – oder will das sagen, wenn man heute nicht einmal zu sagen wagt, was morgen im Belpaese geschieht?

(Hier noch ein Blick auf die Statistiken bez. einzelner Provinzen)

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