Am 4. Dezember stehen uns gleich zwei Wahltermine bevor, über die sich die Medien in Deutschland noch eher ausschweigen. Bei dem einen handelt es sich um die österreichische Bundespräsidentenwahl, bei dem anderen um das Referendum in Italien; natürlich gemäß dem Falle, dass erstere endlich stattfindet und nicht wieder etwas an Wahlzetteln (oder vielleicht doch eher einem der Kandidaten?) auszusetzen ist.
Österreich hat dazumal bereits breiten Raum eingenommen, der Casus ist also nicht völlig unbekannt. Und mit zahmen Neid blickt man rüber in das kleinere, feinere Deutschland (an die austrischen Leser: das ist nur im besten Sinne gemeint!), wo man wenigstens die Wahl hat, zwischen Pest und Cholera zu entscheiden. Den Österreichern traut man anscheinend mehr zu als den Deutschen, denen man sicherheitshalber von oben beide Krankheiten in einer Person verordnet, damit alle etwas davon haben. Das ist dann wohl der vielbeschworene Kompromiss, der die Demokratie zusammenhält. Nicht so in Austria! Da gab es ja eine ganz furchtbare Schlammschlacht. An sich sollte man mehr zu den Eliten delegieren.
Aber das ist ein anderes Feld. Später mehr dazu.
Van der Bellen hat bereits angekündigt, keinen FPÖ-Mann zum Regierungschef zu machen. Da die Parlamentswahlen 2018 in der Alpenrepublik anstehen, hat das Wort Gewicht. Wenigstens da haben die Österreicher von den Piefkes gelernt, wie Demokratie geht: im Zweifelsfall entscheiden die Philosophenkönige, wer der Richtige ist. Wieder neige ich dazu abzuschweifen, und an Münkler zu denken. Oder an die außenpolitische Isolation Deutschlands, sollte nunmehr auch in Österreich ein „Populist“, ein „Rechter“, ein FPÖ-Mann, kurz: ein Faschist wie Trump an die Macht kommen, der sofort den österreichischen Ständestaat wiederbeleben will. Persönlich habe ich den Eindruck, dass die uneingeschränkte Solidarität in den Medien, der Ablauf der Präsidentenwahlen im Mai, sowie die derzeitige, neuerliche Lobhudelei des Grünen (selbst von „konservativer“ Seite) eher kontraproduktiv wirken. Ein Hillary-Effekt droht.
Nach den Landtagswahlen in Deutschland, dem Brexit und der US-Präsidentenwahl wäre ein Sieg Hofers ein weiterer Dominostein, der zu Ungunsten jenes Lagers umfällt, das sich derzeit im edlen Kampf gegen das Anti-Establishment befindet. Es könnte zum dritten Menetekel werden; vor der Wahl in den Niederlanden (Wilders), Frankreich (Le Pen), Deutschland (WorseThanHitler) – und womöglich Italien.
Ich will dem Land von Mozart und Zweig mit Sicherheit keine Unwichtigkeit unterstellen; aber sollte am 4. Dezember das Referendum in Italien mit „No“ beantwortet werden, sind Neuwahlen in Italien im Frühling bis Sommer möglich. Italien ist nicht nur wirtschaftlich in der Euro-Zone belastet, sondern auch derzeit parteipolitisch höchst fragil. Da ich vermute, dass der italienische Fall unbekannter ist als der österreichische, möchte ich ihn an dieser Stelle weiter ausführen.
Zuerst einmal: über was wird am 4. Dezember eigentlich entschieden?
Italien verfügt über ein „perfektes Zweikammersystem“, bestehend aus Abgeordnetenhaus (Camera dei deputati) und dem Senat (Senato). Das Abgeordnetenhaus wird auf nationaler Ebene gewählt, der Senat repräsentiert eher die Regionen; jede der italienischen Regionen entsendet eine bestimmte Anzahl von Senatoren. Dazu kommen sechs Senatoren, welche die Auslandsitaliener repräsentieren, sowie die „Senatoren auf Lebenszeit“. Mit 315 Senatoren hat der Senat nur halb so viele Vertreter wie das Abgeordnetenhaus (630).
Das italienische Gesamtparlament leistet sich also fast 1.000 Abgeordnete, jeder davon mit einem der besten Saläre weltweit ausgestattet. Jedes Gesetz muss zudem beide Kammern passieren. Da für das Abgeordnetenhaus eine Prämie für die stärkste Fraktion ausgeschrieben wird (ähnlich wie im Wahlrecht in Griechenland), der Senat hingegen eine vom Wahlverhalten in den Regionen abhängige, feste Zahl von Senatoren entsendet, kann es zu einem „schiefen Parlament“ kommen, wie dies in Japan oder den USA ab und an der Fall ist. Das bedeutet: eine Partei mag das Abgeordnetenhaus dominieren und die Regierung stellen, verfügt aber im Senat nicht über die Mehrheit. Dies hat in der Vergangenheit oftmals zu Blockaden geführt und Reformvorhaben im Keim erstickt, da die Opposition die Regierung im Senat blockieren konnte.
Die Regierung Renzi hat daher eine Verschlankung und „Differenzierung“ des Parlaments beschlossen. Der Senat wird weitgehend entmachtet und muss nicht mehr bei allen Belangen zu Rate gezogen werden, sondern nur noch, wenn es sich um „territoriale Belange“ (heißt: auf Ebene der Kommunen und Regionen) handelt. Der Senat soll auf 95 Senatoren zusammenschrumpfen; und auch diese werden nicht mehr vom Volk direkt gewählt, sondern nur noch indirekt von den Regionsvertretern bestimmt. Weitere fünf Senatoren werden „auf Lebenszeit“ vom Staatspräsidenten ernannt.
Jede Änderung der italienischen Verfassung muss jedoch vom Volk durch ein Referendum bestätigt werden; die Reformen wurden bereits im Laufe des Jahres 2016 vom Abgeordnetenhaus und dem Senat verabschiedet. Die Legitimation durch ein Referendum findet am 4. Dezember statt. Stimmen die Italiener mit „No“, so kippt das ganze Vorhaben. Da der Eingriff schwerwiegend ist und zu den größten Projekten der Regierung Renzi gehört, hat Renzi sein persönliches Schicksal an den Ausgang des Referendums geknüpft. Der Premier sprach gegen sich selbst das Misstrauensvotum aus, um sich anschließend vom Volk bestätigen zu lassen – ähnlich zum Vorgang, den Gerhard Schröder 2005 einleitete, um Unterstützung für seine Reformagenda zu finden.
Wie bei Schröder könnte allerdings auch Renzis Vorhaben schiefgehen. David Cameron ist kürzlich ähnlich über den Brexit gestolpert. Und da derzeit das „No“ in Umfragen führt, zeichnet sich ein Szenario ab, wie wir es in diesem Jahr schon häufig erlebt haben.
Was zuvor als Bekräftigung gedacht war, wurde von der Opposition nämlich geschickt genutzt. Der Movimento 5 stelle, die derzeit größte Oppositionspartei (das „populistisch“, „linkspopulistisch“ oder andere typische Medienbewertungen lasse ich mal beiseite) , machte aus dem Referendum kurzerhand eine Abstimmung über Renzi selbst – und damit über dessen Politik, die EU, den Euro, die Rentenpolitik und alle andere Themen, die den Italienern auf der Seele brennen. „Populismus!“ hört man bei Vertretern von Renzis Sozialdemokraten des Partito Democratico und dessen angeschlossenen Medienvertretern – es gehe ja schließlich nicht um Renzi, sondern die Verfassungsänderung! Wutbürger, die ihrem Protest Ausdruck verleihen wollten, die keine Rücksicht auf Politik, Reformen und die Zukunft Italiens nimmt. Einfache Lösungen und Parolen.
Nun denn: man kann auch argumentieren, dass Renzis Schachzug ebenso populistisch war. Seine eigene politische Zukunft mit einer Abstimmung zu verbinden, um Druck auszuüben und damit die Wahl „einfacher“ zu machen, kann als ebenso populistischer Zug angesehen werden. Wie im Übrigen auch jener der anderen genannten Politiker, die auf diese Weise scheiterten. Die Verantwortungslosigkeit, die Cameron nach dem Brexit vorgeworfen wurde, könnte also hier ebenso gegen Renzi verwendet werden – womöglich mit dem Unterschied, dass das Referendum über „leave“ und „remain“ weniger zwingend war, als im italienischen Fall.
Renzi hat nicht nur die Opposition aus M5s, Lega Nord, Fratelli d’Italia und den kläglichen Resten der Forza Italia (Ex-Berlusconi) und diverser Splitterparteien zusammengeschweißt, da er diesen einen Coup ermöglicht, sollte der Premier über seine Ankündigung stürzen; auch Gruppen innerhalb des PD sehen die Möglichkeit, sich des mächtig gewordenen Parteivorsitzenden zu entledigen. Renzi hat für die Linken in der Partei eine schmerzhafte Politik betrieben, welche der Mitte-Rechts-Regierung Berlusconis deutlich näher stand als die einer traditionellen Linksregierung. Sollte Renzi stürzen, hofft man auf einen neuen Kandidaten aus jenen Reihen der alten Linken, aus denen üblicherweise die Vorsitzenden stammen. Der Premier kann sich also nicht einmal auf die eigenen Leute gänzlich verlassen.
Mit so wenig Unterstützung und so viel Gegenwehr, zusammen mit einer Medienlandschaft, die nicht ansatzweise so regierungsfreundlich ist wie die in den USA und Deutschland, droht das Referendum zum Schlussstein in Renzis Regierungszeit zu werden. In Rom hat man bereits erste Konsequenzen gezogen: in einer Ansprache vor allem gegenüber Wählern der Lega und des M5s hatte Renzi demonstrativ die EU-Flagge aus seinem Büro verbannt. Stattdessen standen sechs Trikoloren hinter dem Schreibtisch. Mehr Italianità wagen! Kurz zuvor hatte Trump die Präsidentenwahl gewonnen, und der Toskaner seinen Obama-freundlichen Berater gegen einen Trump-Anhänger ausgetauscht, der ihm zu mehr Patriotismus riet, um wichtige Stimmen zu gewinnen.
Der Nationalismus brandet also schon vor der Wahl auf, und Renzi scheint im Gegensatz zu vielen anderen Amtskollegen das Phänomen der Re-Nationalisierung ernster zu nehmen. Anders als bei den anderen Schicksalswahlen hat man sich nicht im Elfenbeinturm eingeschlossen – denn mögliche Szenarien nach einem „No“ würden den italienischen Laden kräftig durcheinanderwirbeln.
Sollte Renzi Wort halten und abtreten, bedeutete dies nicht sofort den Sturz der Regierung. Noch könnte die Koalition einen anderen Premier aufstellen. Allerdings hat die PD keinen Mann, der ansatzweise die Unterstützung bei den Abgeordneten und im Volk hat, wie es bei Renzi der Fall ist. Noch scheint ein Kompromiss möglich; und allein der Willen zum Machterhalt könnte dazu führen, wieder einmal eine farblose Figur wie Enrico Letta zu nominieren, die mehr verwaltet, als regiert, um Italien bis zur Wahl 2018 zu retten. Denn bereits jetzt droht in den Umfragen ein solches Debakel, dass nicht nur der PD geschwächt aus der Wahl ginge; vermutlich würden auch einige der kleineren Koalitionspartner gänzlich untergehen. Das gilt insbesondere für den NCD, einer Abspaltung der Forza Italia, die Berlusconi verriet, um mit Renzi zu kollaborieren. Innenminister Angelino Alfano ist deren prominentester Vertreter.
Wie angemerkt, könnten die Linken sich allerdings durchsetzen und einen Kandidaten durchdrücken, der nicht das Vertrauen aller Abgeordneten hätte. Im Falle eines Sturzes der Regierung, wären Neuwahlen möglich – und zwar zwischen Frühling und Sommer, womöglich im Mai oder Juni. Das wäre nach der niederländischen, und kurz nach der französischen Wahl, aber noch vor der Bundestagswahl. Dabei könnten die Grillini vom M5s stärkste Kraft werden; der PD ist personell verbraucht, die Forza Italia ohne Berlusconi eine 10%-Partei und Schatten ihrer selbst. Die Lega Nord um Matteo Salvini kann man bestenfalls bei 15-20% verorten und ist vor allem auf Norditalien beschränkt. Durch die Prämie dürfte der M5s das Abgeordnetenhaus gewinnen – aber aufgrund der Ansage dieser „Anti-Establishment“-Partei, keine Koalitionen zu schließen, dürfte die Grillini kaum in der Lage sein, auch den Senat zu dominieren.
Wir hätten dann eine EU-kritische Regierung, deren Anführer (wie im Übrigen auch die Lega und die FdI) ein weiteres Referendum in Aussicht stellt: nämlich einen Austritt aus dem Euro. Neben den konkreten Turbulenzen, die ein Regierungssturz im Dezember mit sich brächte, wäre ein politischer Umschwung im Sommer 2017 zugunsten des M5s ein weitaus deutlicheres Problem für Brüssel und Berlin. Die alten Eliten würden im Senat und der Administration den Grillini das Leben schwer machen, aber Grillo dürfte ebenso gegenüber Merkel und Juncker kontern. Beides mittlerweile verhasste Figuren in Italien, gegen die auszuteilen derzeit jeden Italiener – ob links oder rechts – mobilisiert.
In den verschiedenen Umfragen liegt das „No“ mittlerweile zwischen 5% bis 10% vor dem „Si“. Letzteres unterstützen vor allem PD-Wähler und die Alten. Die Jungen wollen rebellieren – also im Gegensatz zum Brexit, wo man oft den Vorwurf konstruierte, die Alten würden den Jungen die Zukunft nehmen. Der M5s ist eine junge Partei: viele Gesichter sind meistens erst Ende 20 bis Ende 30 alt. Und es ist diese Generation, welche ein Ende der Korruption und Kaste will – in Rom wie in Brüssel. Von seinem Aufbau erinnert der M5s eher dem Front National mit seiner starken Jugendbewegung jener betrogenen Generation, die im Klientelsystem übergangen wird, wegen falscher Gesinnung im öffentlichen Dienst keinen Fuß fasst, und trotz Abschluss kein Einkommen erzielt. Die „Deplorables“ der romanischen Länder sind keine „Loser“ der Trash-Gesellschaft. Das rebellische Potential geht von gut ausgebildeten jungen Männern ohne Perspektive aus, die aber gerade deswegen etwas ändern wollen.
Wir dürfen also mit Spannung erwarten, was die linksdrehenden Medien, die ja sonst immer aufseiten der Chancenlosen und Jungen stehen, sich dieses Mal einfallen lassen, um den Casus gemäß eigener Gesinnung zu deuten. Natürlich fährt man derzeit den Zug von Nationalismus, Populismus, verführtem Volk, Grillo und Konsorten. Dabei hatte Renzi sich auch auf den letzten Metern ein Eigentor erlaubt, als der für die Auslandsitaliener bestimmte „Si“-Flyer mit Staatsgeldern gefördert wurde. Noch dazu mit einem Tippfehler: statt auf die offizielle „Si“-Seite führt dieser ins Leere, da in der Webadresse „bastaunsi“ ein „n“ fehlte. Kurzerhand sicherte sich das „No“-Lager die Seite „bastausi“ und machte dort heftige Propaganda. Auch das: ein doppelter Coup für die Gegner der Reform.
Natürlich stimmt die Propaganda auch: der Konflikt um das Referendum ist größtenteils zu einem Ja oder Nein zu Renzi geworden. Auch in meiner Familie musste ich mir anhören: ein „No“ ist unverantwortlich, denn das mögliche Chaos kann nicht den Sturz Renzis wert sein. Wer soll denn nach Renzi kommen? Grillo? Haben wir nicht endlich eine ganz passable Regierung? Wenn wir Reformen wollen, um den Laden endlich in Schwung zu bekommen, ist die Verfassungsänderung die Möglichkeit, nunmehr endlich anzupacken!
Das höre ich durchaus eher im Lager von Mitte-Rechts, als bei den Linken. Vielen Italienern ist bewusst, dass es nicht so weiter gehen kann. Und in der Tat wäre eine Zusammenstauchung des Parlaments, eine Neuverteilung von Kompetenzen, und eine Verschlankung des Prozederes begrüßenswert. Vor allem die Abschaffung der vielen Abgeordnetenposten samt Gehälter sind verlockend. Insbesondere für den Libertären in mir.
Und dennoch habe ich sehr lange gezögert. Denn da sind noch andere Komponenten. Bleiben wir bei der freiheitlichen! Der Senat wird nur noch indirekt gewählt, heißt, keine Wahl der Senatoren durch das Volk. Das wäre eine Beschneidung der Möglichkeiten, welche die Italiener hatten. Mehr indirekte, weniger direkte Demokratie. Kann das im Sinne der „Demokratie“ sein? Auch Rechtsexperten deuteten an, dass dies der gravierendste Einschnitt in die Verfassung seit 1946 wäre. Und weiter: besonders die Erfahrungen im deutschen System, wo der Bundesrat auch nur indirekt besetzt ist, und eine Große Koalition schalten und walten kann wie sie will, ist eine mögliche Blockade im Senat ein Segen. Ein Durchregieren wie bei Merkel ist unwahrscheinlicher.
Womit wir zu einer weiteren Komponente kommen. Ich habe durchaus konstitutionalistische Tendenzen, so beim Grundgesetz. Es gibt gute Gründe, warum unsere Verfassung so ist, wie sie ist. Man könnte anführen: so oft, wie das Wahlrecht in Italien geändert würde, kann man kaum sinnvoll Konstitutionalist sein. Dennoch: der Grund, warum das italienische System so chaotisch wirkt, mit oftmals wechselnden Ministerpräsidenten und Neuwahlen, liegt in einer historischen Erfahrung begründet. Während die Deutschen nach der Diktatur der Meinung waren, aus Weimar zu lernen, lernten die Italiener aus dem Faschismus. Das deutsche Grundgesetz will eine wehrhafte, stabile Demokratie; die italienische Verfassung will eine Demokratie, in der Macht möglichst gut aufgeteilt ist, und niemand die Alleinherrschaft an sich reißen kann. Eine Kanzlerin, die kontinuierlich 12 Jahre (mit Aussicht auf vier weitere!) regiert, ist nicht möglich. Dafür bin ich – trotz der vielen Unruhen – ebenso dankbar. Man kann der Verfassung vieles vorwerfen, aber das Konzept der „checks and balances“ wirkt hier deutlich besser.
Es kursiert daher auch nicht völlig unbegründet der Verdacht, Renzi könne seine eigene Position zu der eines deutschen Kanzlers aufwerten. Und im Zweifelsfall ist so ein System anfälliger für autoritäre Umschwünge als das derzeitige. Ich sag’s frei heraus: Merkels Deutschland ist tausendmal engstirniger und ideologischer als es Berlusconis Italien je war. Auch, weil in dieser Konstellation Macht viel brüchiger ist, und er nie an einem Stück so lange regieren konnte, wie es die deutsche Kanzlerin tut.
Italienischer Konstitutionalismus bedeutet: ich verhindere, dass zu viel Macht in eine Hand gerät. Auch, wenn das auf Kosten der Stabilität geht.
Ebenso läuft der Regionalist in mir Sturm. Italien ist ein Zentralstaat, der Senat das einzige Feigenblatt, das diesem Konzept zuwiderläuft; und auch in dieser Beziehung kaum zufriedenstellend. Dieser nunmehr indirekt gewählte Senat mit seinen bestellten Senatoren und geringen Kompetenzen würde den Zentralismus wieder stärken. Regionale Kompetenzen könnten möglicherweise in Zukunft beschnitten werden. Das Subsidiaritätsprinzip wird darunter leiden.
Und genau das ist der Punkt: es gibt rationale Gründe, gegen dieses Referendum zu sein. Fragen, die in die Richtung gehen „Willst du etwa das Chaos?“ gehen in dieselbe Richtung wie „Renzi muss weg!“. Sie machen die Frage an der Person, nicht an der Sache fest. Ich habe daher sehr, sehr lange überlegt, für welche Seite ich meine Stimme abgebe, und tendiere mittlerweile ebenfalls aus diesen Gründen zum „No“ – denn ich glaube nicht, dass die Entmachtung des Senats mit meinen Überzeugungen übereingeht. Wer Reformen will, muss eben beide Kammern gewinnen, oder Kompromisse schließen – wie in den USA und Frankreich auch. Dafür eine Kammer auszuhebeln, dazu deren Direktwahl und auch noch die Regionalkomponente, wäre so ziemlich gegen alles, was ich in diesem Diarium niederschreibe.
Vermutlich wird nicht jeder diese Überlegungen anstellen. Aber Santo Dio noch eins – gehöre ich also auch bald zu den sich irrelevant fühlenden Leuten ohne Universitätsabschluss, die sich abgehängt sehen und in postfaktischen Welten leben.
Habe ich eben Anteil an der kommenden Europakalypse: nachdem das trump’sche Lamm das Siegel brach, folgten dem österreichischen und niederländischen der französische Reiter, bis zuletzt das italienische Ross über die europäischen Felder galoppiert. 2017 wird eine Zäsur. Aber nicht ich habe das Schicksal meines Landes an ein Votum geknüpft – Renzi hat versucht, die italienischen Wähler zu erpressen, jetzt erpressen sie ihn. Sollen die Politiker selbst zu ihren Fehlern stehen, oder fallen.
Und es sind nur die ersten von sieben Siegeln.