Eins vorab: wenn ein deutscher Politiker behauptet, Deutschland und Österreich seien bis 1866 ein Staat gewesen, so ist das in mehrfacher Hinsicht eine schiefe Formulierung. Festzustellen ist, dass Österreich bis 1866 höchstens ein Teil Deutschlands war, da dieses idealerweise einer mitteleuropäischen Kulturlandschaft entsprach, die in Literatur und Musik weitaus vitaler war als in politischer Hinsicht. Aber doch: gehen wir so weit, dass wenigstens das Alte Reich bis 1806 Deutschland entsprach, und Mozart sich als „Teutscher“ bezeichnete, so ist ganz ohne Zweifel, dass im 19. Jahrhundert vor der Gründung des Zweiten Reiches ein Phänomen namens Deutschland bestand, das man mit Fug und Recht als „Land“ bezeichnen darf. Zumindest findet es sich als geographische Landschaft auf Karten der vormaligen Zeit.
Falsch ist jedoch der Begriff Staat deswegen, weil dieses Deutschland aus mehreren politischen Einheiten bestand. Die Klammer dieser Einzelstaaten bildete der Deutsche Bund, der allerdings in seiner Form loser war als der Verband des Alten Reiches. Dieser Staatenbund wurde von Preußen und Österreich dominiert, die ihre Interessen gegen die vergleichsweisen kleinen Einzelstaaten („Drittes Deutschland“) ausspielten. Die repressive Politik, Zensur und autoritäre Regierung der beiden Protagonisten des Deutschen Dualismus hat sich in das Gedächtnis tief eingeprägt; durch Vormärz und anschließende Märzrevolution. Im Jahr 1848 wurde klar, dass Österreich immer noch als natürlicher Teil einer möglichen deutschen Nationalstaatlichkeit galt, sonst hätte man dessen Abgeordnete nicht nach Frankfurt eingeladen. Zugleich ist die Märzrevolution jedoch mit ihrer (gescheiterten) kleindeutschen Lösung ein Vorgeschmack auf das Auseinanderdriften von Piefkes und Öschis.
Es ist daher durchaus nicht falsch, die Aussage Gaulands richtig zu stellen. Wie sich dabei die Süddeutsche Zeitung aber hineinsteigert, ist nicht nur abenteuerlich; in einem Artikel, der von einer kruden Geschichtsstunde handelt, verhebt sich das Vorzeigeobjekt deutscher Quantitätspresse so dermaßen, dass die Ausführungen des AfDlers fast schon harmlos erscheinen. Im Übereifer Gauland auf seine Ungereimtheiten hinzuweisen, und möglichst eine Linie zu etwaigen Nationalsozialisten zu ziehen, verirrt sich das Blatt selbst in eine ganze Reihe von Ungenauigkeiten.
Gauland zeigt sich in dem aufgezeichneten Gespräch distanziert gegenüber dem rechtsextremen Front National von Marine Le Pen aus Frankreich („Da hab ich schon Sprachschwierigkeiten“). Anders bei der radikal rechten FPÖ aus Österreich. Diese sei der AfD bis zu einem gewissen Grade am nächsten, sagt Gauland und versteigt sich zu der Aussage: Österreich und Deutschland waren eins, man „war immerhin bis 1866 ein Land“.
Wie angesprochen, ist die Aussage so nicht korrekt; aber gerade Journalisten, die immer wieder kürzen, sollten den Duktus von Sendungen wenigstens soweit nachvollziehen können, dass die Verknappung eines Sachverhaltes üblich ist, und nicht jeder ein privates Diarium hat, in dem er erst einmal innerhalb von zwei Abschnitten ausführlich die Situation darlegen kann. Tadelnswerter ist daher – wie oben angeführt – diese Passage:
Der Interviewer Martin Thür reagiert irritiert und hakt nach. Gauland gibt sich felsenfest überzeugt, dass er richtig liegt und verweist auf den „Deutschen Bund“. Man sei bis zum preußisch-österreichischen Krieg von 1866 „großdeutsch“ gewesen. „Wir waren ein Staat.“
Wie dann die SZ mit dem Skandal umgeht – im Übrigen stilistisch weit unter dem Niveau dessen, was man noch vor ca. 20 Jahren dort las – ist dann allerdings alles andere als souverän:
Diese Aussage ist entweder dreist – oder blamabel für Gauland. Wahrscheinlich eher Letzteres. Er scheint wirklich nicht zu wissen, was (sic!) „Deutsche Bund“ war. Auf jeden Fall ist Gaulands Geschichtsstunde ziemlich krude. Beim „Deutschen Bund“ handelte es sich nämlich nur um einen Zusammenschluss souveräner Einzelstaaten, ein Staatenbund, heute vergleichbar mit der Afrikanischen Union. Luxemburg war übrigens auch Teil des „Deutschen Bundes“, ein gemeinsame Währung gab es damals nicht – da ist die Europäische Union heute schon weiter. Und die EU bezeichnet Gauland ja auch nicht als „ein Land“.
Man kann bekanntlich alles vergleichen – aber nicht alles gleichsetzen. Deutscher Bund und Afrikanische Union? Ganz abgesehen von einer kulturellen, sprachlichen und nicht zuletzt historischen Konstante, auf welcher der Deutsche Bund fußt, verfügte dieser über permanente Institutionen, Organisationen und Gremien; so über eine ständigen Vertretung der Einzelstaaten in Frankfurt, die als Erbe des Reichstages angesehen werden kann. Diese waren u. a. auch zu Bundesexekutionen fähig – so beispielsweise durch den Einsatz eines eigenen Bundesheeres, das ja gerade die Annexion des erwähnten Luxemburgs durch Belgien (1830) verhinderte. Kein Mitglied des Bundes durfte sich mit einer ausländischen Macht verbünden, welche die Absicht hatte, den Bund zu schwächen oder Mitglieder anzugreifen – man hätte sich ähnliche Klauseln für das Alte Reich vor dem 30jährigen Krieg gewünscht! Und wie sehr wünschte man sich solcherlei Regelungen für das gegenwärtige Chaos in Afrika. Unglücklicherweise wurde diese Militärmacht auch gegen revolutionäre Umtriebe liberaler Prägung eingesetzt. Bezüglich der Repression von Unruhen, afrikaweiter Pressezensur und durchaus nicht unerfolgreicher Revidierung von Verfassungen in den Einzelstaaten hat die Afrikanische Union noch einiges an Nachholbedarf.
Bietet sich die EU mit ihren Einmischungen in nationale Angelegenheiten da nicht deswegen viel besser als Vergleichsobjekt an? Allein wegen der erwähnten militärischen Belange ist es fraglich, ob – wie insinuiert – die EU heute weiter ist als der Bund von damals. Wie schon mehrfach ausgeführt: eine eigene Währung kann kaum das Nonplusultra zur Staatsdefinition sein. De jure existierte ein Bundesheer und ein Militärbündnis, womit der Bund wiederum der heutigen EU weit voraus ist. Vielmehr zeigt das Beispiel, warum die EU einer Chimäre ähnelt: üblicherweise folgt die Währung der militärischen Vereinigung, nicht andersherum. Vom Deutschen Zollverein mag ich hier erst gar nicht beginnen. Alles in Allem ist die verkrampfte Nivellierung des Deutschen Bundes durch die SZ zwecks Zeichnung eines zerstückelten Mitteleuropas der Einzelstaaten mindestens genauso blamabel wie die gauland’sche Überhöhung zum Staat.
Hätte der Artikel hier geendet, es wäre bei einem Unentschieden geblieben. Doch die SZ kann nicht anders; sie wäre schließlich nicht die SZ, wenn es nicht um historische Vergleiche, sondern im Kern um das geht, was sich die linksliberale Presse stets auf die Segel schreibt: das „Entlarven“ von Personen, mindestens als Rechte, hoffentlich als Neurechte, am besten als Nazis. Also tritt die Redaktion nach:
Gauland sagt, er wisse, „wo das Denken der FPÖ herkommt (…) Da hat es die Deutschen gegeben, die sich im Reich (Kaiser) Franz Josephs nicht mehr so zu Hause fühlten.“ Der AfD-Vize nennt „Bewegungen“, die den Anschluss an das Deutsche Reich forderten. Bei diesen Gruppierungen handelte sich um die Alldeutschen des berüchtigten Judenhassers Georg von Schönerer, nach dem Ersten Weltkrieg die Großdeutsche Volkspartei, deren Mitglieder später zur NSDAP überliefen.
Einigen Journalisten muss man einfach einen Fetisch unterstellen. Dass nach dem verlorenen Krieg weite Teile der Gesellschaft und auch der Politik für einen Anschluss (Deutsch)Österreichs waren, fällt hier natürlich komplett unter den Tisch. Die Entente hatte allen Grund in den Versailler Vertrag zu schreiben, dass sich der Rest der einstigen Donaumonarchie nicht dem Deutschen Reich anschließen durfte. Schon in der ersten Verfassung von (Deutsch)Österreich wurde ein Anschluss an die „Deutsche Republik“ in Aussicht gestellt (Artikel 2); und die Leute, die einen Anschluss Österreichs in den 20ern unterstützten, waren dabei nicht ausschließlich Judenhasser oder Mitglieder der Großdeutschen Volkspartei. Selbst die Sozialdemokraten waren dafür. Bei den Versailler Verhandlungen trat der damalige sozialdemokratische Gesandte Österreichs Otto Bauer gar der Klausel wegen zurück. Erst der Aufstieg Hitlers dämpfte die Anschlussromantik in Österreich – im Übrigen nicht nur bei den Sozialdemokraten, sondern auch bei den rechten Vertretern des österreichischen Ständestaates, die einer Annexion skeptisch gegenüberstanden.
Aber dass es ums Prinzip geht, zeigt der Autor daran, wenn er wegen solcher Parolen schon Anstoß nimmt:
Das heikle Erbe zeigt sich etwa auch dann, wenn der Burschenschaftler und heutige FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer Kandidat mit einer Kornblume posiert – es war das Erkennungszeichen der antisemitischen und österreichfeindlichen Alldeutschen (hier mehr dazu). Im von Hofer federführend erstellten Parteiprogramm ist deshalb die Fomulierung (sic!) zu finden, Österreich sei Teil der „deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft“.
Man muss schon ein ziemlich verqueres Verhältnis zur Geschichte haben, wenn solcherlei Aussagen Schaum vor dem Mund generieren, bzw. man daraus einen möglichen, rechtsextremen Vorwurf konstruieren möchte. So, als sei es ein Skandal, eine entlarvende Phrase, wenn man von einer „deutschen Volks-, Sprach- und Kulturgemeinschaft“ spricht. Anders gefragt: ja, was denn sonst? Man kann sich an der Volksgemeinschaft stören. Dass in Österreich aber Deutsch gesprochen wird und die Kultur der bundesdeutschen stark verwandt ist, darf man aber noch sagen – oder braucht es dafür nunmehr die Erlaubnis von SZ-Journalisten?