Der Rauch des Brexit lichtet sich. Die Welt steht noch – und Britannien auch. Die Insel ist – entgegen anders lautender Äußerungen – nicht im Höllenschund verschwunden. Im Gegenteil feiert die Börse einen Brexit-Boom.
Die deutschen Medien haben mit Boris Johnson ein neues Feindbild gefunden: erst als „Feigling“ tituliert und nun, da er zum Außenminister der neuen Regierung May aufstieg, darf er sich mit Donald Trump den Rang eines Lieblingsirren der hiesigen Journaille teilen.
Einzig: der Löwe hat so seine Probleme, an einen „Irren“ zu glauben, wenn Johnson 8 Jahre lang eine der größten Metropolen der Welt regierte, und das auch noch als Konservativer im traditionell eher linksliberalen London. Zudem hat der Mann die antiken Klassiker studiert, parliert zum Spaße in Latein und kann mit Universitätsprofessoren über Rom und Athen diskutieren. Die längste Zeit seines Lebens arbeitete Johnson als Journalist – wobei seine Kollegen, die sich jetzt in Spott über ihn ergehen, wohl weder über dieselbe Bildung, noch eine ansatzweise vergleichbare, politische Karriere verfügen.
Damit will ich es bei dieser Episode belassen und beende sie mit einer Tasse Earl Grey.
Kommen wir wieder zu den regionalistischen Themen. Der österreichische Finanzminister stieß in dasselbe Horn wie viele andere, und kündigte bereits an: Nordirland und Schottland „blieben“ in der EU, Großbritannien würde zu Kleinbritannien. Das unter dem Titel „Schottland wird nicht gehen“. Eine merkwürdige Logik: so, als handelte es sich bei Schottland bereits um eine eigene Entität. In dieser Hinsicht ist das Brexit-Referendum eine Novität: die Mehrheit der Schotten hat für den Remain gestimmt, also wird Schottland bleiben. Wenn Referenden so funktionieren würden, dann hätte Italien sich 1946 auch in Nord- und Süditalien aufteilen müssen, weil man im Norden mehrheitlich die Republik und im Süden die Monarchie wählte. So, als hätte das System „one man, one vote“ keinerlei Bedeutung mehr. Die Entdeckung der Region über ihre Gegner.
Oder, um die Aussage noch ins Absurde zu ziehen: angenommen, Großbritannien hätte mehrheitlich für Remain gestimmt, aber England und Wales für den Brexit, würde man dann in den EU-Ländern den Engländern und Walisern eben jenes Recht auszutreten zugestehen, was man den Schotten quasi nun als Menschenrecht nicht abstreiten will? Ich vermute, die unausgesprochene Antwort macht deutlich, wie wenig es hier ums Selbstbestimmungsrecht der Völker, als vielmehr um die Macht und das schlichte Divide et impera der Altvorderen geht.
Am 29. Juni erschien nicht der Noch-Premier David Cameron, sondern die schottische Erste Ministerin Nicola Sturgeon in Brüssel beim ersten EU-Gipfel nach dem Brexit. Ein Ereignis, das von den deutschen Tagesthemen großspurig in einem größeren Beitrag ausgerollt wurde. Man zeigte Bilder aus „Braveheart“, phantasierte davon, wie das Andreaskreuz bald bei den anderen Fahnen hängen könne, und zeigte die Chefin der Scottish National Party (SNP) mit „Handshakes“ unter europäischen Kollegen.
Die Sache hatte bloß einen Haken: an der eigentlichen Konferenz nahm Sturgeon gar nicht teil. Sie blieb im Foyer. Spaniens Ministerpräsident Rajoy hatte vorher bereits klar gemacht, dass er ein unabhängiges Schottland nicht anerkennen würde. Gespräche mit Schottland würde Spanien durch ein Veto boykottieren. Davon hörte man in deutschen Medien natürlich nichts.
Ebenso wenig verbreitete sich ein Beitrag der BBC am selben Morgen, in dem Rebecca Harms von den Europäischen Grünen Rede und Antwort stand. Die SNP ist in ihren Ansichten am ehesten mit den deutschen Grünen vergleichbar – man teilt nicht nur linksliberale Positionen, sondern auch eine gemeinsame Fraktion im EU-Parlament. Die SNP setzt sich für den Ausbau des Sozialstaats ein, stellt seit Jahren Windräder in den Highlands auf*, macht sich für die gleichgeschlechtliche Ehe stark und sieht auch den Kern der schottischen Identität nicht in einem „Volk“ sondern im regionalen Territorium. Diese Philosophie wurde bereits beim Referendum deutlich, bei welchem Schotten im Ausland nicht wählen durften, sondern nur in Schottland lebende Menschen.
Kaum verwunderlich, dass Sturgeon und Harms Duzfreundinnen sind, und „Rebecca“ ihrer Kollegin natürlich unter die Arme greifen wollte. Die Schotten hätten für die EU gestimmt, das müsse man in der Konferenz beachten.
Auf die Entgegnung der Britin, die Schotten hätten vor 18 Monaten auch für den Verbleib beim UK gestimmt, ging Frau Harms natürlich nicht ein.
Es zeigt sich dabei jenes mangelnde Demokratieverständnis, welches der EU und ihren Eliten unterstellt wird, letztere aber abstreiten. Sie merken es nicht einmal mehr. Und umso schlimmer: die deutschen Medien ignorieren Gegenargumente und igeln sich in ihrer eigenen Ideologie ein.
Verfolgt man die Diskussionen im schottischen Netz, so ergibt sich ein teilweise diametrales Bild zu dem in den deutschen Medien veröffentlichten: wer hat denn in Schottland am ehesten die „Remain“-Kampagne unterstützt? Letztlich alle Parteien: ob nun SNP, Labour oder Liberale. Die konservativen Tories hielten sich neutral, spielen aber in Schottland traditionell keine Rolle. Dieser Hintergrund wird so gut wie ausgeblendet, denn bei dieser satten Unterstützung hätte das Remain-Votum weitaus eindeutiger ausfallen müssen. Ganz abgesehen davon, dass die Wahlbeteiligung in Schottland niedriger ausfiel als in Wales oder England. Selbst die SNP konnte ihre eigenen Anhänger nicht völlig zu „Remain“ mobilisieren.
Ich lese in letzter Zeit häufig Statistiken, welche das Brexit-Votum für nichtig erklären, weil die Remain-Stimmen und die Stimmen der Nichtwähler zusammen eine Mehrheit hätten. Überträgt man dies auf die schottischen Verhältnisse, so erscheint dies noch weitaus eindeutiger: denn zählt man hier die Brexit-Stimmen und die Nichtwähler zusammen, kommt „Remain“ auch auf keine Mehrheit. Umgekehrt wird also ein Schuh draus.
Demnach bleibt der Löwe auch bei der Prognose, dass Schottland bei einem neuerlichen Referendum nicht aus dem UK austreten wird:
Primo. Weil augenscheinlich selbst Teile von Labour und SNP für den Brexit gestimmt haben (die Tories sowieso), und die EU-Mitgliedschaft für die Mehrheit der Schotten wohl nicht so wichtig ist wie eine Mitgliedschaft im UK.
Secundo. Weil Spanien – wie schon sehr früh von mir unterstrichen – sofort klargemacht hat, dass Schottland nicht mit einer zügigen Aufnahme in die EU rechnen kann. Die meisten Schotten dürften das wissen. Auf die EU-Fördergelder und die britischen Fördergelder auf Jahre zu verzichten dürfte selbst einigen SNP-Mitgliedern zu Denken geben; ebenso, dass man dann ohne Sterling und ohne Euro dastünde.
Tertio. Weil Referenden im UK weder in Brüssel, noch in Edinburgh beschlossen werden, sondern in London. Und nach 18 Monaten dürften die Aussichten darauf gering sein, da die Schotten ihren Willen zum Verbleib im Vereinigten Königreich erst kürzlich bekundet haben.
Eine weitere Angelegenheit, die kaum besprochen wird, ist die wachsende Unzufriedenheit der Schotten mit der SNP. Wie oben angedeutet, handelt es sich um eine grüne, linksliberale Partei. Konservative und ordoliberale Kräfte sähen sich bei einer langfristigen Herrschaft der SNP nicht von dieser vertreten. Selbst Labour, lange Zeit unbestrittene Herrscherin Schottlands, sieht sich in die Bedeutungslosigkeit herabsinken. Um es kurz zu machen: die Alleingänge Sturgeons auf nationaler und europäischer Ebene weckt bei vielen Nicht-SNPlern in Schottland das Gefühl: „Lasst uns mit der bitte nicht alleine!“ In den sozialen Netzwerken weckt das Referendum jedenfalls keine neuerlichen Unabhängigkeitswünsche – dies ist vielmehr eine reine Sturgeon-Veranstaltung.
Denn die Ideen eines unabhängigen Schottlands stoßen nicht bei allen Sezessionisten auf Gegenliebe. Die ideologische Ausrichtung der SNP ließ zumindest Sturgeons Vorgänger Alexander Salmond noch eher zu einer Republik, als zu einem Königreich tendieren. Viele Schotten sind jedoch bis heute vielleicht nicht englandtreu, jedoch durchaus königstreu. Auch touristische Aspekte, sowie die Frage nach dem Verbleib zahlreicher schottischer Schlösser, die sich im Besitz der Krone befinden, stellen die Frage nach Monarchie und Republik nach einem Ausscheiden Schottlands aus dem Königreich. Eine „australische Lösung“, demnach die Königin weiterhin Staatsoberhaupt bleibt, Schottland aber als unabhängiges Land fortbesteht, erscheint als wahrscheinlich – es ist jedoch bezeichnend, dass die Idee bis heute nicht zu Ende gesponnen wurde. Lässt man die Windsors außer Acht, hätten die Wittelsbacher aufgrund ihrer jakobitischen Erbrechte als nächste Dynastie Anspruch auf den Thron. Ob sich die Schotten aber für einen König Franz/Francis erwärmen können, erscheint bei den genannten politisch-ideologischen Verhältnissen eher zweifelhaft.
Was jedoch in der Tat geschehen könnte, um Großbritannien in seiner heutigen Form zu stabilisieren und zu erhalten, wäre eine weitere Dezentralisierung des Landes, hin zu möglicherweise konföderalen Verhältnissen. Insbesondere Nordirland dürfte aufgrund seiner komplexen Konfliktgeschichte ein weitaus wichtigeres Feld sein als Schottland. Eine Einheit mit der Republik Irland ist eher auszuschließen; was in beinahe hundert Jahren nicht funktioniert hat, wird auch jetzt nicht zusammenfinden. Eine neuerliche Grenzziehung dürfte jedoch nach Jahrzehnten der Versöhnung allein aufgrund seiner Symbolkraft als böses Omen gelten. Vielleicht könnte bei einer neuerlichen Reform des Königreichs durchaus für Nordirland die Möglichkeit herausspringen, dass Teile des UK Teil der EU sein können, andere nicht; als anderes Territorium böte sich Gibraltar an.
Das mag nun abstrus klingen; kann denn ein Teil eines Staates der EU angehören und ein anderer nicht? In Großbritannien war dies schon in der Vergangenheit möglich: so gehörten die britischen Überseeterritorium im Atlantik und der Karibik zwar zum Vereinigten Königreich, aber nicht zur EU. Bei den beiden zypriotischen Militärbasen Akrotiri und Dekelia, die ebenfalls ein Überseegebiet bilden, existiert hingegen sogar die Besonderheit, dass sie zum EU-Zollgebiet gehören und der Euro dort als Währung gilt.
Es wären den pragmatischen Engländern zuzutrauen, ähnliche Klauseln auch unter umgekehrten Vorzeichen einzuführen.
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*Touristen beklagen sich bereits über die Verschandelung der Highlands.