Eigentlich hatte ich etwas zu Nizza schreiben wollen. Eigentlich. Und irgendwie erscheint es pietätlos zu aktuelleren Geschehnissen überzuleiten; dennoch sind vermutlich die außenpolitischen und welthistorischen Auswirkungen der gestrigen Nacht dringender, als sie übergehen zu können.
Von dem Moment an, als internationale Medien von Panzerbewegungen und Flugzeugmanövern über den beiden bedeutendsten Städten der Türkei berichteten, mischte sich eine merkwürdige Hoffnung in die Nutzer aller sozialen Medien. Ein Militärputsch hatte in der Türkei in den letzten Jahrzehnten mehrfach stattgefunden und mit Erfolg geendet. Die Ankündigung der Putschisten, die säkulare, demokratische Ordnung zu wahren, stimmte viele optimistisch, nun würde die alte, kemalistische Türkei wiedergeboren und Erdogan vertrieben werden.
Mitverantwortlich war dabei eine Fernsehszene, bei der sich der angeblich gestürzte Präsident Erdogan per Smartphone meldete. Das Militär hatte da bereits verkündet, die Macht vollumfänglich im gesamten Land übernommen zu haben. Erdogan rief über Telefon zum Widerstand auf. Für westliche Beobachter mutete die Szene albern an; man glaubte sich an viele gestürzte Diktatoren zu erinnern, die nach ihrem Machtverlust sich immer noch in großen Reden ergingen.
Das Gegenteil war der Fall. Was der Westen als lächerlich, gar als Beleg für den Untergang des neuosmanischen Sultans ansah, war für den Orient die Kehrtwende. Nicht nur in der Türkei, sondern auch in den großen Städten Europas gingen Türken überall auf die Straße. Erdogans Aufruf verdeutlichte die ganze Macht eines Herrschers, bei dessen Aufruf man zum Sterben bereit war. Beängstigend für den modernen Westler: Präsident sprich, wir folgen dir. Kein Italiener würde wohl bei einem Putsch gegen Renzi aufstehen; dergleichen halte ich auch bei einem Sturz der Kanzlerin für möglich.
Nicht so in der Türkei. Von den ca. 280 Todesopfern der Nacht waren die Mehrheit Zivilisten, die sich auch nicht von den feuernden Soldaten abbringen ließen. Hinter ihnen der Ruf der muslimischen Geistlichen, die von den Minaretten Allahu akbar riefen. So, als formte sich hier ein Bataillon neuer Janitschare, die im Opferkampf ihre neuen Sultan die Treue schworen. Es war eine Sternstunde der islamischen Türkei. Das neuosmanische System zeigte seine ganze Überlegenheit, wurde sichtbar in Ankara, in Istanbul, selbst in Berlin. Eine Vitalität und Macht, wie sie das alte Europa kaum noch kennt – und eine, die jedem zu denken geben sollte, der glaubt, die Türkei von außen einhegen zu können.
Verwunderlich von Anfang an: die stoische Ruhe der NATO. Wussten die Amerikaner von den Vorbereitungen? Zufall, dass Präsident Obama und viele andere Staatsoberhäupter sich erst hinter Erdogan stellten, als es zur blutigen Auseinandersetzung kam – weil eine über Leichen gehende, neue Militärregierung ebenso wenig nach außen hin hätte verkauft werden können, als das bisherige Erdogan-System? Spekulationen, in der Tat. Aber die Rolle der NATO und USA wäre durchaus eine, die man in diesem Falle etwas näher hätte durchleuchten können.
Jedoch – was erwartet man schon von der deutschen Berichterstattung, die sich trotz 10 Milliarden GEZ-Gebühren jährlich nicht verpflichtet sah, den Bürger in der Nacht umfassend zu informieren? Als handelte es sich um ein Zugunglück, bei dem ein paar Brennpunkte reichten, bis man sich zur Morgenstunde zurückmelden würde. Wobei: selbst jedes Zugunglück wird in Deutschland, wenn nur genug autochthone Opfer darunter sind, mehr ausgeschlachtet als dieser Vorgang, der noch in den Folgejahren als Zäsur der türkischen und europäischen Geschichte gelten könnte.
Glücklich der, welcher sich schon seit längerem per BBC, CNN oder euronews informiert. Unübersichtlich die Lage, gewiss. Womöglich gar eine Inszenierung. Aber einige Umstände, wie das merkwürdige Smartphone-Video von Erdogan wirken seltsam in dieser Inszenierung, sollte sie eine sein. Und viele, viel zu viele haben sich zu früh und zu diebisch gefreut. Fakt ist: nach dem Aufbegehren der Erdogan-Anhänger, nach den blutigen Zusammenstößen und einem drohenden Bürgerkrieg stellten sich plötzlich alle hinter den „Diktator von Bosporus“. Selbst Grüne und die erdogankritische HDP waren darunter. Alliierte erschienen, von denen man vormals nicht erwartet hätte, dass es sie gab. Am wichtigsten: die USA haben sich voll und ganz zum türkischen Verbündeten Erdogan bekannt. Plötzlich sind Putschversuche per se schlecht und abzulehnen – wo doch der 20. Juli nur wenige Tage entfernt liegt.
Die AKP hat gezeigt, dass sie nicht nur in den Schaltstellen, sondern auch im Volk tief verankert ist. Die Religion dürfte eine Rolle spielen; wer dies bezweifelt, muss sich nur den Ablauf der Geschehnisse, und den ständigen Bezug zu Allah klarmachen. Deshalb sieht Erdogan den Vorgang als Gottesgeschenk an; und deshalb wird er dieses Geschenk so gut ausnutzen wie möglich.
Machiavellis Diktum, dass es besser ist, gefürchtet als geliebt zu werden, ist stark verkürzt. Es bedeutet nicht besser, sondern „sicherer“, weil Furcht einfacher als Liebe zu gewinnen ist. Ein Volk, das seinen Fürsten aber so sehr liebt, dass es auf die Straße geht und Feinde sogar foltert oder bestialisch tötet, ist ein machiavellistischer Traum und durchaus real. Selbst die Wiedereinführung der Todesstrafe kommt ins Gespräch. Der Taksim-Platz, vor Jahren Zeichen der Anti-Erdogan-Bewegung, ist heute in fester Hand seiner Anhänger.
Nahezu 3.000 Richter sind nun festgenommen worden, das Militär wird „gereinigt“, und wem eine Verbindung nachgewiesen oder wenigstens angedichtet werden kann, dürfte zumindest aus dem politischen Leben verschwinden. Historische Beispiele für solche Vorgehen nach vereitelten Machtübernahmen gibt es unzählige. Es ist erst der Anfang.
Glückwunsch an den Westen zu solchen Verbündeten. Sage keiner, er hätte nichts davon gewusst. Aber wie las ich jüngst: die „Demokratie“ würde dadurch gewahrt…