Jetzt denke außerdem keiner, dass dies nur symbolischer Natur war, und im lockeren Italien nichts so gemeint wird, wie es gesagt wurde. In Venedig fürchtete man die Staatsinquisition; die war jedoch – entgegen dem Mythos! – nicht gegen das Volk, sondern gegen die Regierungsträger gerichtet. Dem Dogen Leonardo Loredan wies man nach dessen Tod nach, sich während des Amtes bereichert zu haben, und forderte von den Erben 2.700 Dukaten – etwa umgerechnet 14 Jahresgehälter eines normalen venezianischen Arbeiters. Und das, obwohl Loredan dem Staat während seiner Amtszeit 90.000 Dukaten gespendet hatte!
Da ein Doge immer damit rechnen musste, dass seine Familie für seine Fehler belangt wurde, hatte die Republik ein mächtiges Instrument der latenten Bedrohung in der Hand, weswegen sich die überwältigende Mehrzahl der venezianischen Staatsoberhäupter den Gesetzen beugte.
Es dürfte bereits das Amt der Dogenberater aufgefallen sein, die häufig als Kontrollorgan des Dogen Erwähnung fanden. Diese Graue Eminenzen hatten damit in der Tat große Machtbefugnisse. Aber im Gegensatz zum Dogen, der auf Lebenszeit gewählt war, gestaltete sich ihre Amtszeit kurz: nämlich nur auf ein Jahr. Danach waren sie nur normale Ratsmitglieder, und durften sich zudem für ein weiteres Jahr lang nicht mehr auf diesen Posten bewerben. Dass sich die sechs Savi zudem gegenseitig skeptisch beäugten und kontrollierten, dürfte auf der Hand liegen.
Berühmtheit hat auch der Rat der Zehn erlangt. Eigentlich hatte er als einfaches Kontrollgremium begonnen, da er wegen Verschwörung und Hochverrats ermitteln sollte. Zu spät erkannten die Venezianer, dass eine Behörde, die festlegen konnte, wer ein Hochverräter war oder nicht, eine recht unamüsante Einflussnahme auf den Staat ausübte. Die Zehn rissen bald immer mehr Kompetenzen an sich, rangen sogar dem Senat seine außenpolitische Kompetenz für kurze Zeit ab.
Man bemerkt oftmals nicht die Macht eines Justizministeriums, bis der falsche Mann das Amt bekleidet.
Der Unterschied zu Deutschland: einem Heiko Maas saßen wenigstens neun andere Politiker entgegen, die ihn überstimmen konnten. Der Rat der Zehn hatte die Aufgabe, die Venezianer vor politischen Gewalttätern und deren Plänen zu schützen; statt gegen die Bürger vorzugehen, ging er gegen andere Politiker vor. Die Mitglieder des Rates wurden nur auf ein Jahr gewählt, um Machtmissbrauch zu verhindern. Eine Familie durfte nur ein Mitglied stellen. Während ihrer Amtszeit galten die Mitglieder als „aus dem Leben entfernt“, heißt: Zurückgezogenheit, Verschwiegenheit und Meidung der öffentliche Sphäre gehörte bei den Zehn zum Grundsatz.
Die Macht des Rates der Zehn nahm solche Überhand, dass man ihm mit der venezianischen Staatsinquisition wiederum ein neues Gremium entgegenstellte, um seine Macht einzuschränken. Ihm gehörten drei der zehn Mitglieder an. Auch hier blieb die venezianische Regel: Kollegialität und kurze Regierungsdauer (1 Jahr). Beschlüsse konnten nur einstimmig gefällt werden. Wiederwahl war nicht möglich.
Die Venezianer verfügten noch über eine ganze Reihe weiterer Räte und Ämter; die Avogardori, die Prokuratoren, den Senat, das Collegio und den Rat der Vierzig (Quarantia) habe ich hier nicht ausgeführt, weil das Konzept dasselbe bleibt:
– Repräsentative Ämter haben eine lange Amtsdauer, wenige Kompetenzen und werden einfach besetzt
– Politisch wichtige Ämter sind mehrfach besetzt, bedürfen der Einstimmigkeit und werden auf nicht mehr als ein Jahr vergeben
– Wiederwahl ist nicht möglich
– Verstoß gegen Recht und Gesetz wird inquisitorisch bestraft, Sippenhaft eingeschlossen
Den Venezianern bedeutete die Republik mehr als die Demokratie; es muss jedoch einschränkend hinzugefügt werden, dass eben unter den Nobili eine Demokratie herrschte. Der Große Rat war „das Volk“, die Räte seine Vertretungen, die Ämter die Exekutive und Judikative. Die wichtigsten Gesetze mussten durch den Großen Rat gehen. Und wenn irgendjemand dachte, er wäre „etwas besseres“ oder sich Machtmissbrauch anmaßte, stand sofort die gesamte Nobilität bereit, um ihn abzusägen.
Für die Venezianer wäre es unvorstellbar, dass Regierungschefs zwei Wahlperioden herrschen, gar 8, 10 oder 12 Jahre im Amt blieben, zugleich mit solcher Machtfülle; für sie wäre unvorstellbar, dass ein Justizminister sich in die Angelegenheiten anderer einmischte, das Gesetz für sich statt für die Republik auslegte und er keinen Kontrollmechanismus an der Seite hätte; dass Präsidenten und Ministerpräsidenten einfach die Ämter tauschten, damit der andere später wiedergewählt werden könnte; dass Ministerpräsidenten auf Druck von Präsidenten zurückträten, um absolute Präsidialdiktaturen einzuführen; und wie eine Kanzlerin jedwedes Recht und Gesetz der Republik bricht, ohne von der Staatsinquisition belangt zu werden. Dass Familienmitglieder sich bei der Macht an oberster Spitze abwechseln (früher in der Form von Vätern, Söhnen, Onkeln und Neffen – heute eher bei Ehemännern und ihren Gattinen), war bereits in Venedig verpönt.
Das venezianische System ist vordergründig eines, das Machtmissbrauch verhindert. Es baut darauf auf, dass niemand, auch nicht der mächtigste Mann, Recht und Gesetz brechen kann, welches der Maggior Consiglio (der eigentliche Souverän) bestimmt. In Venedig sind Gremien nur Erfüllungsgehilfen, weil der Große Rat aufgrund seiner Behäbigkeit das Land nicht effizient leiten kann. Ihn aber zu übergehen, bedeutet die Republik zu übergehen. Und kaum geht eine Amtszeit vorbei, so rücken die meisten Mitglieder wieder zurück in ihre Reihen; einer von 1.000, irgendwo in der letzten Bank, obwohl noch vor Wochen der Schrecken der Republik, da er bei der Staatsinquisition vorsaß. Die Kollegen merken sich jeden Fehler, jede Beleidigung, jede Anmaßung (oder war es Anmaasung?).
Einige fanden sich kurze Zeit später auf der Anklagebank.
Wahrlich, man könnte einem Venezianer nicht die Demokratie erklären, weil es für ihn eine Pöbelherrschaft bliebe; andererseits, vermutlich würden auch viele Politiker unserer Zeit nicht verstehen, was Republik bedeutete, wenn es ein Venezianer von damals zu erklären versuchte.