Die Heilige Agnes

19. März 2016
Kategorie: Caravaggioduft | Gemälde und Fotographereyen | Hintergrund und Schreibarbeit | Philosophisches | Zum Tage

Heilige Agnes

„Heilige Agnes“ von Alonso Cano

Am 19. März 1601 wurde der spanische Künstler Alonso Cano in Granada geboren. Das obige Bild ist leider nicht die Fotographie des Originals. Dieses gilt bis heute als verschollen. Stattdessen handelt es sich nur um die Rekolorierung einer Schwarz-Weiß-Fotographie. Eine weitere, bedrückende Episode jenes Verlustes der 434, denn vermutlich war eben jenes Gemälde das größte Meisterwerk des Künstlers.

Der Kurator führte Sam an den Bildern vorbei: an Portraits von Damen und Frauen, an mythologischen Szenen, an christlichen Heiligenbildern und Mysterien. Es war ein farbloses Mahnmal, das an den schmerzlichsten Verlust der Sammlung erinnerte. In ihren Grautönen wirkten die Allegorien gespenstisch. Die Haut der Menschen und Fabelwesen hatte Leichenblässe angenommen.
Sam hatte das Gefühl, in einer Katakombe voller Toter angekommen zu sein, von denen nur noch trübe Erinnerungen verblieben waren.
»Anthonis van Dycks Beweinung Christi. Caravaggios Matthäus mit dem Engel. Sandro Botticellis Maria mit dem Kinde.« Er deutete auf die verschollenen Meisterwerke, die in ihrer Größe die ganze Wand einnahmen. Mit leicht gehobenen Mundwinkeln hielt er vor dem nächsten Bild. »Persönlich verehre ich die Heilige Agnes von Alonso Cano. Sie hatte ein Gesicht voller Reinheit und Güte.«
Die korrekte Beamtenstimme versagte bei den letzten Worten. Der Nachhall unterdrückter Ergriffenheit brachte den sonst so penibel ausgeführten, monotonen Ton zum Zittern. Es war keine falsche Romantik, sondern stille Trauer um einen Bekannten, einen Freund – vielleicht sogar Verwandten.
Sam stand vor dem Bildnis einer jungen Frau. Ihre linke Hand lag auf der Brust, in der Rechten hielt sie ein Bündel Palmzweige. Die Falten in ihrem Gewand hatte der Künstler mit Präzision und Liebe zum Detail gestaltet; ihr Schleier, der sich einem filigranen Diadem anschloss, war so hauchdünn gemalt, dass er sich auf der Schwarz-Weiß-Kopie beinahe verlor. Den Heiligenschein konnte man nur noch vermuten.
Die Heilige schaute nach links, das Gesicht leicht abgewandt vom Betrachter. Der Kurator hatte von Reinheit und Güte geredet, doch Sam hätte dem widersprochen. Schwermut, Melancholie, Fatalismus, so, als wüsste sie um ihr Schicksal als Märtyrerin – das glaubte Sam in ihren Augen zu sehen. Es war jene Art leiser Traurigkeit, die um das unabwendbare Schicksal, um den eigenen Tod, und den vieler anderer wusste.
Die heilige Agnes sah ihr Ende voraus – und teilte den Blick des Opferlamms auf dem Sockel neben ihr, das den Betrachter direkt anschaute.

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