Babel

18. März 2016
Kategorie: Caravaggioduft | Europa | Freiheit | Hintergrund und Schreibarbeit | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Italianità und Deutschtum | Persönliches | Philosophisches

Seine Begleiterin hatte ihn verlassen. Italo stand allein. Zwischen den Ungeheuern aus Wolkenkratzern, die Schluchten formten. Dazu die Feuerströme aus Bremslichtern, die sich in die Finsternis der Nacht ergossen. Hupen und Sirenen belauerten ihn auf der einen Seite; aggressiv blinkende Werbeschilder und aufdringliches Reklamegedudel auf der anderen; wie zwischen Scylla und Charybdis wankte er in dieser fremden Welt, die allem Natürlichem, allem Sein entbehrte – dagegen dem Künstlichen, dem Schein in seiner Vollkommenheit huldigte.

Seine Ledersohlen hatten unzählige Meilen beschritten. Italienische Handarbeit. Nach alter Manier. Unikate, die über den immergleichen Asphalt streiften, über die Millionsten Kopien zertretener Zigarettenstummel und zerknüllter Pappbecher, die aus überfüllten Mülleimern fielen. Schuhe, deren Schnürsenkel er gewechselt, dessen Sohlen er hatte austauschen lassen; doch blieben es immer dieselben. Kontinuität. Unvorstellbar in einem Zeitalter, das Autos, Computer und Waschmaschinen innerhalb von Jahren verschrottete. Weil alles gleich, weil alles austauschbar, weil alles relativ in einer Welt erschien, die nur noch in den Gleichungen von Materie und Wert lebte. In dem das, was man nicht fassen konnte, belanglos und bedeutungslos wurde. Mochte es die Beziehung zu Gott, zu Mitmenschen – oder einem einfachen Paar Schuhe sein, von dem man sich aus unempfindlichen Gründen nicht trennen konnte, nicht trennen wollte.

Das war das Grundprinzip der Liebe. Unerklärlichkeit. Was man aber nicht erklären konnte, nicht zu definieren vermochte, was kein Maß, keinen Preis, keine Masse hatte, musste grundsätzlich infrage gestellt werden. Schönheit war eine Facette dieser Vorstellung. In der Architektur herrschte nicht mehr die Klarheit der Renaissance, nicht der Prunk des Barock oder die Verspieltheit des Rokoko eine Rolle – sondern reine Effektivität.

Italo hatte sich bis zu diesem Tag nicht vorstellen können, welche Monster der Mensch erschuf, wenn er nur genügend Glas, Stahlbeton und ein Geodreieck miteinander kombinierte. Einst hatte man die Architektur zu den Künsten gezählt – gleich der Bildhauerei, Malerei und Musik. Aber da niemand Kunst definieren konnte, hatte auch sie sich dem Erklärlichen, dem Materiellen, der Logik und dem Nützlichen unterordnen müssen.

Wo die Unterschiede verwelkten, wucherte das Unkraut des Relativismus. Dieser Ort war die Unheilige Hauptstadt dieser Religion. Dasselbe chinesische Restaurant, dasselbe pakistanische Kopiergeschäft, die ungezählte, sisyphos’sche Wiederholung einer amerikanischen Fastfood-Kette. Diese Stadt war so gleich und so wiederholend zugleich, dass sie den Charakter aller Städte besaß, ohne eine eigene Stadt zu sein; sie besaß den Klang und den Geruch aller Metropolen der Welt, weshalb die Einfältigen glaubten, dass sie abwechslungsreich, lebendig und unverwechselbar war; doch gerade weil sie alles vereinte, weil sie ihre Identität abgelegt hatte, besaß sie keinen eigenen Geruch, keinen eigenen Klang, keine eigene Persönlichkeit. Die Stadt hatte sich selbst aufgegeben, um groß zu sein. So, wie sich das britische Empire seines englischen Handelssinns entledigt hatte, um zu herrschen; so, wie viele Menschen sich verstellten oder ihre eigene Meinung zugunsten der anderer ablegten, um Karriere zu machen. Entkernt und völlig von sich selbst befreit, ging alles unter im Meer der ewig gleichen Masse: bis auch der letzte Winkel der Welt so aussah wie diese Stadt, mit denselben Filialen, derselben Architektur, demselben Völkergemisch, denselben Eindrücken und – denselben Gedanken. Das alles unter dem Banner der Individualität und Freiheit.

Nur der Teufel konnte sich dergleichen ausdenken. Nur der Teufel konnte von Freiheit, von Individualität und Gleichheit der Kulturen reden, aber in Wirklichkeit Verwahrlosung, Gleichmacherei und ethnische Konflikte meinen. Sein Name bedeutete nicht „der Böse“. Sondern Spalter. Verleumder. Wortverdreher.

Seine größte Lüge war jene über den Reichtum und Wohlstand. Denn obwohl Italo sich in einem der reichsten Länder des Globus befand, glaubte er, niemals so viele arme Menschen gesehen zu haben. Ärmer als die Obdachlosen mit ihren Plastiktüten, ihren Pappbehausungen und Einkaufswagen waren diejenigen, die sich für reich hielten – stattdessen jedoch die Position der größten Sklaven in diesem unermüdlichen Hamsterrad aus Reiz und Belohnung einnahmen. Die Größe der geistigen Armut hatte ein solches Ausmaß erreicht, dass die meisten ihrer Opfer glaubten, sie bezeichne nur eine geistige Behinderung.

Italo hatte zu zählen aufgehört. Er schritt durch die Menge der Alkoholisierten. Der Anästhesierten. Der Hedonisierten. Menschen, die über andere lachten, weil sie an Gott glaubten, aber selbst keinen Glauben besaßen, außer den an mehr Freizeit, größere sexuelle Freizügigkeit und an das nächste Ereignis voller Reize und Extreme; die, verblendet von den Träumen und Illusionen der Gesellschaft, selbst zu träumen und zu hoffen verlernt hatten; die mit hehren Zielen als Weltverbesserer auftraten, und immer wieder von Liebe sprachen, aber unerbittlichen Hass gegenüber Andersdenkenden zeigten.

Warum sah er so viele Frauen mit ihren Hunden und Katzen – aber keine Kinder?

Die Jugendlichen waren die größten Betrogenen. Sie kannten es nicht mehr anders. Ihre Ohren lauschten nicht der Welt, sondern waren ertaubt ob des dauernden Schalls des Kopfhörers; sie tasteten nicht das Sein, sondern tippten auf den Tasten der Virtualität; das Auge hatte sich an Reiz, an Bildschirme, an Bilder und Effekte gewöhnt, und war des Schauens nicht mehr fähig; den Geschmack der traditionellen Küche, wie sie die Teigwaren und Tomaten Italiens boten, würden sie niemals schmecken, da der graugleiche Fraß der Anspruchslosigkeit ihre Zungenknospen abgestumpft hatte.
Und im tiefsten Inneren glaubte Italo zu wissen, dass ihr Geruchssinn außerhalb der Extreme nicht mehr existierte, unfähig dafür geworden, die Nuancen des Lebens im Unterbewussten noch wittern zu können. Der Geruch aber beherrschte Italos Leben; nichts desorientierte ihn daher mehr als der Gestank der um sich greifenden Leere.

Er schaute den Menschengruppen nach. In ihren Kleidern ohne Geschmack. Mit ihren Bewegungen ohne Stil. Mit ihrem abgelenkten Blick. Wie Geister, die durch das Leben taumelten und nicht zu sich selbst kamen. Große Städte waren ein Strudel, der alles einsaugte, Schiffe und Mannschaft inklusive; daher hatte Odysseus es eher mit der Scylla aufnehmen wollen, und das Leben seiner Männer aufs Spiel gesetzt, statt der Charybdis entgegenzutreten, die das Wasser am Grund des Mittelmeeres in die Tiefe saugte.

Der Zeitgeist war ihr Widergänger.

Italo beherrschte nicht der Zynismus. Ihn beherrschte die Suche nach Wahrheit. Das hieß, den Dreck und den Schmutz in den Straßen zu sehen, während einen die Leuchtreklamen und die glitzernden Fenster blendeten; und es hieß, den Gestank der Armen zu riechen, während der Dampf von Imbiss und Fastfood mit ihren chemischen Verstärkern die Nase benebelten und um Aufmerksamkeit heischten. Es bedeutete zu begreifen, dass Pelzmäntel seelenlos an Lumpen vorbeistreiften, Menschen ihren Körper mit Gift voll pumpten und ihre Hirnzellen für einen kurzen Rausch opferten.

Er liebte die Landluft, weil dort weniger Menschen lebten, die mit ihren Exzessen die Natur trübten. Nicht, weil er die Menschen hasste. Sondern weil er wusste, wozu sie fähig waren. Weil niemand, der auf dieser Welt lebte, außerhalb davon leben konnte. Es gab ein richtiges Leben im falschen; denn außerhalb davon existierte kein Leben. In einer Welt aus Techno-Musik und Hip-Hop noch Verdi oder Beethoven anzustimmen war ein Akt der Reaktion. Keine Rebellion, sondern Einklang mit dem Sein. Allein, weil man war, wer man war; lebte, wie man leben wollte; die Dinge als natürlich hinnahm – befand man sich im permanenten Kriegszustand mit dem Jetzt.

In den Unwuchten der Gegenwart harrte eine Gestalt zwischen den Gemäuern längst vergessener Häuser. Sie saß im Schatten von Pappe und Mülltonnen. Den Kopf gesenkt, sah sie niemanden und wurde von niemanden gesehen. Italo hatte genau betrachtet, wie Unzählige den Weg passierten. Die Mütze des alten Bettlers hatte das Wetter durchweicht. Sie lag wie nutzlos auf dem Gehweg. Kein Münzenschimmer darin, der sich im Glitzern der Fabelwelt hätte spiegeln können.

Für Sekunden glaubte sich Italo inmitten von Millionen völlig allein. Nur umgeben von den Ausdünstungen der Selbstaufgabe des Alten, der ihn nicht bemerkte, von der Welt aus blinkenden Lichtern, alkoholisierten Jugendlichen und tastentippenden Frauen entfremdet. Wenn dies die Zeit des Teufels war, in welcher jener schalten und walten konnte, weil er erneut mit Gott gewettet hatte, so, wie es bei Hiob geschehen war – so glaubte Italo für diesen unwiederbringlichen Moment den Hauch des Heiligen Geistes zu spüren, der ihm antwortete, dass er eben nicht alleine sei.

Er drehte sich um. In seinem Rücken strahlte das Zeichen des Tieres. Goldgelb. Ein umgedrehter Dreizack, wie ihn der Meeresgott Poseidon trug, der Odysseus immer wieder auf Irrreisen geschickt hatte; dessen erklärtes Ziel es blieb, dass der König niemals wieder einen Fuß auf den Boden seiner geliebten Heimat Ithaka setzen durfte. Andere sahen in diesem Logo nur ein M; für Italo dagegen symbolisierte es alles, was er von Herzen zu meiden versuchte. Einen Zyklopenkampf hätte er dieser Prüfung vorgezogen.

Das Brüllen hunderttausender Rinder, die im Moment ihres industrialisierten Todes aufschrieen, um als fertig verpackte Fleischscheiben zwischen zwei Pappbrötchen gepresst zu werden, spiegelte sich im Gestank wieder, der aus den Toren des amerikanischen Tempels wie Schwefelgeruch drang, kaum, dass er diesen aufgestoßen hatte.

Italo musste nicht anstehen. Die Filiale war nahezu leer. Die Speisenden wie die Bedienenden blind. Ein junger Mann mit übertrieben kurzen, schwarz gefärbten Haaren und silbernem Gehänge im Ohr stand hinter der Theke. Ihm fiel nichts auf. Und außer den Details der Bestellungen stellte er keine Frage. Er ging nicht darauf ein, dass ihm ein Herr in stilsicherem Mailänder Herrenanzug gegenüberstand; dass dieser handgefertigte Schuhe jener Qualität trug, wie man sie in der nördlichen Neuen Welt nicht fand; Merkwürdigkeiten, die dem Kassenwart dieser Fastfood-Kette hätten auffallen können, da der Italiener in seinem gesamten Aufzug völlig aus dem Rahmen seiner Umgebung fiel.
Von dem blitzenden Barockdegen an Italos linker Seite ganz zu schweigen.

Spätestens als der Kunde das Wechselgeld in der Annahme eines Trinkgeldes völlig desinteressiert auf dem Tresen hinterließ, hätte der junge Mann aufwachen können – doch da war Italo mit der diabolischen Papptüte in der einen Hand (und mit dem Taschentuch vor der Nase in der anderen) längst aus dem Haus geschritten.

Sekunden später landete ein Becher Capuccino und eine prall gefüllte Tüte neben einer nassen Mütze auf dem Straßenboden. Den Bettler weckte der Geruch, der die Umgebung einnebelte. Vom Spender dagegen sah er nur noch den Wintermantel im Zwielicht von Autos, Straßenlaternen, und dunklen Gassen flattern.

Italo klopfte gegen den Stoff am Körper. Als quetschte er mit den Handschuhen die Spuren seines Tuns heraus; der unerträgliche Gestank der Massenfertigung rief Übelkeit bei ihm hervor. Die Geruchspartikel seines Besuchs, so kurz er nur gewesen war, hatten sich schärfer als der Höllenschwefel eingeprägt.

Wie leicht war es, seine Gedanken mit diesen Nichtigkeiten abzulenken.

Er konnte nicht alle Armen dieses Molochs nähren. Er konnte nicht allen Heimatlosen ein Obdach bieten. Was er für einen tat, tat er für unzählige nicht. Er konnte den Teufel nicht besiegen. Er konnte ihm nur Zentimeter seines unendlichen Reiches abringen. Gleich, wie viel Überwindung ihn das immer wieder kosten würde. Wer darauf wartete, dass die Welt sich änderte, um dann darin zu leben und gerecht zu sein, hatte keine Gerechtigkeit verdient.

»Mr. Italo!«

Die Stimme verriet ihm, dass die Prüfung vorbei war. Er drehte sich um. Sie war zurück. Näherte sich. Das Chaos um ihn herum wurde bedeutungslos, da er in ihre Augen sah. In ihren Worten lag wie immer das Zwischenspiel zwischen Provokation und Freundlichkeit.

»Irgendwas Wichtiges passiert, während ich weg war?«

Die Begleiterin erwartete, dass Italo einen seiner Kommentare von sich gab. Mit dem Degen gewetzt, mit der Zunge geschliffen. Vorbereitet, nur für diesen Moment, damit sie sich daran stoßen konnte. Sie hatte ihm genügend Zeit dafür gelassen. Womöglich erging sich der Italiener in einen seiner Monologe.
Doch dieses Mal versagte ihre Logik, für die sie der Begleiter so schätzte und verachtete. Italo dachte nach. Wie beiläufig antwortete er.
»Menschliches.«
Der Italiener stopfte die Hände in die Manteltasche – und ging einsam voraus.
»Allzumenschliches.«

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