Wie bereits erwähnt: diesen Monat steht das Diarium unter dem Motto „Llibre Vermell de Montserrat“ (kurz: Llibre Vermell), nachdem in den Vormonaten Parmigianino, Guareschi und die Euganeischen Anekdoten den Löwenschlag bereicherten.
Das Llibre Vermell – das „Rote Buch von Montserrat“ – ist eine Liedersammlung des Spätmittelalters eben jenes berühmten Klosters in der Nähe Barcelonas, wo die Schwarze Madonna verehrt wird. Im Mittelalter ein bedeutender Pilgerort, wurde die Anlage von Napoleons Truppen zerstört und anschließend wiederaufgebaut. Aufgrund ihres kulturellen und historischen Wertes hat die Abtei bis heute den Ruf eines katalanischen Nationalsymbols, die Madonna (La Moreneta) von Montserrat gilt zudem als Patronin Kataloniens. Gemälde von Tiepolo bis Dalì schmücken das Innere.
Neben dieser regionalistischen Komponente existieren drei Gründe, wieso ich diese Sammlung vorstellen will.
Erstens: Das Llibre Vermell bricht mit dem Musik-Klischee des Mittelalters und üblicher Kirchenmusik. Die Gesänge leben von einer volkstümlichen, vitalen Stilrichtung, die für Unkundige manchmal orientalische Anklänge hat. Aus der Musik bricht eben jene völlige Natürlichkeit des religiösen Seins Alteuropas heraus, zu der viele Menschen keinen Zugang mehr haben. Dabei klingt das Llibre Vermell niemals profan, sondern spricht immer noch die Sprache des Mittelalters, in der Gott im Zentrum des Lebens steht.
Zweitens: Das Jahr 2016 spielt wieder einmal mit Symbolismen. Es ist eines der wenigen Jahre, in denen Karfreitag auf Mariä Verkündigung fällt. Im Mittelalter galten solche „Zufälle“ als Omen; so erwartete man 1334 die Apokalypse, da Christi Zeugung und Tod am selben Tag als Zeichen der Erneuerung/Ende der Welt angesehen wurde. Zu diesem Zwecke hätte ich natürlich auch die Cantigas de Santa Maria Alfonsos X. herauskramen können, aber das Llibre Vermell kenne ich etwas länger und besser.
Drittens: Auf diesem Diarium habe ich bisher kaum alte Musik – Mittelalter und Renaissance – aufgegriffen.
Das Liedbuch selbst stammt aus der Zeit um 1400. Prinzipiell geht man aber von einer älteren Kompilation aus, da einige Lieder stilistisch aus früheren Zeiten stammen. Die Texte sind in Latein, sowie den damaligen Formen des Katalanischen und Okzitanischen gehalten. Die erwähnte Volkstümlichkeit der Melodien kommt dabei nicht von ungefähr: bei ihrer Reise mussten die meisten Pilger oftmals draußen vor dem Kloster warten, viele vertrieben sich die Zeit mit Musik und Tanz. Den Mönchen waren dabei manche der profanen Gesänge nicht recht. Der Abt gab daher zur Antwort: wenn das Volk draußen schon musiziert und feiert, dann bitte mit den richtigen Texten!
Quia interdum peregrini quando vigilant in ecclesia Beate Marie de Monte Serrato volunt cantare et trepudiare, et etiam in platea de die, et ibi non debeant nisi honestas ac devotas cantilenas cantare, idcirco superius et inferius alique sunt scripte. Et de hoc uti debent honeste et parce, ne perturbent perseverantes in orationibus et devotis contemplationibus …
Da es vorkommt, dass die Pilger, die in der Kirche der heiligen Maria in Montserrat Nachtwache halten, singen und tanzen wollen, und dies auch tagsüber auf dem Kirchplatz, und sie dort nur sittliche und andächtige Lieder singen dürfen, sind einige hier niedergeschrieben. Diese sollten mit Rücksicht und Mäßigung verwendet werden, damit jene nicht gestört werden, die ihrem Gebet und geistlichen Kontemplationen nachgehen möchten…
Kurz: das Llibre Vermell besteht aus den Melodien damaliger Volkslieder, aber eben mit religiösem Text. Dies scheint zumindest auf die Mehrzahl zuzutreffen; andere Stücke bestimmt dabei eine Aura des Chors oder Kanons, was auf eine originäre Komposition für genau diesen Zweck vermuten lässt.
Ein Beispiel für eine der letzteren Melodien ist „Stella splendens“, ein Werk, das ich persönlich sehr gerne zur Weihnachtszeit höre, und dann auch teile:
Stella splendens
(Sequitur alia cantilena omni dulcedine plena eiusdem domine nostre ad trepudium rotundum.)
Stella splendens in monte ut solis radium
miraculis serrato exaudi populum.
Concurrunt universi gaudentes populi
divites et egeni grandes et parvuli
ipsum ingrediuntur ut cernunt occuli
et inde revertuntur graciis replete.
Stella splendens…
Principes et magnates excirpe regia
seculi potestates optenta venia
peccaminum proclamant tundentes pectora
poplite flexo clamant hic: Ave Maria.
Stella splendens…
Prelati et barones comites incliti
religiosi omnes atque presbiteri
milites mercatores cives marinari
burgenses piscatores premiantur ibi.
Stella splendens…
Rustici aratores nec non notarii
advocati scultores cuncti ligni fabri
sartores et sutores nec non lanifici
artifices et omnes gratulantur ibi.
Stella splendens…
Regine comitisse illustres domine
potentes et ancille iuvenes parvule
virgines et antique pariter vidue
conscendunt et hunc montem
et religiose.
Stella splendens…
Cetus hic aggregantur hic ut exhibeant
vota gegraciantur ut ipsa et reddant
aulam istam ditantes hoc cuncti videant
vocalibus ornantes soluti redeant.
Stella splendens…
Cuncti ergo precantes sexus utriusque
mentes nostras mundantes oremus devote
virginem gloriosam matrem clementie
in celis graciosam senciamus vere.
Stella splendens…
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Deutsche Übersetzung: Glanzvoller Stern
(Es folgt ein weiteres Lied gänzlich voll von Süße jenes, unseres Herrn
–
zum Tanzen im Kreis.)
Glanzvoller Stern auf dem Berg, wie ein Sonnenstrahl
wunderbar erstrahlend; erhöre das Volk.
Alle fröhlichen Menschen versammeln sich:
Arme und Reiche, Junge und Alte
steigen auf (den Berg), um mit ihren Augen zu schauen,
und kehren (von ihm) voll der Gnade zurück.
Glanzvoller Stern…
Herrscher und Magnaten von königlichem Stamm,
die Mächtigen der Welt, der Gnade teilhaftig,
bekennen ihre Sünden, sich die Brust schlagend,
und rufen mit gebeugten Knien: Ave Maria.
Glanzvoller Stern…
Prälaten und Barone mit edlem Gefolge,
alle Mönche und Priester,
Soldaten, Händler, Bürger, Seeleute,
Städter und Fischer lobpreisen hier.
Glanzvoller Stern…
Bauern, Pflüger und auch Schreiber,
Advokaten, Steinmetze und alle Schreiner,
Schneider, Schuster und auch Weber,
alle Handwerker danken hier.
Glanzvoller Stern…
Königinnen, Gräfinnen, mächtige Damen
und Mägde, junge Mädchen, Jungfrauen und alte Frauen und Witwen
steigen auf diesen Berg – und Nonnen.
Glanzvoller Stern…
Die Gemeinde versammelt sich hier, um ein Gelübde
zu sprechen, zu danken und das Gelübde zu erfüllen,
diesen Ort zu ehren, damit alle sehen
und sie freudig zurückkehren, des Heiles teilhaftig.
Glanzvoller Stern…
Wir wollen alle beten jedwelchen Geschlechts
und voll Demut unsere Sünden bekennen,
der ruhmvollen Jungfrau, Mutter der Barmherzigkeit,
um im Himmel der Gnadenreichen nahe zu sein.
Glanzvoller Stern…