Zu Universitätszeiten unterhielt ich mich mit damaligen Kommilitonen über folgende These: nämlich, dass jedes Jahrhundert durch eine bestimmte Zäsur im zweiten Jahrzehnt geprägt und vorbereitet werde. Ich machte das dazumal an folgenden Beispielen klar:
1517: Luthers Thesenschlag erschüttert die westliche Christenheit. Die Reformation verändert Europa, selbst der bis heute katholische Teil bleibt davon nicht ausgeschlossen. Das folgende Jahrhundert ist von religiösen Auseinandersetzungen geprägt. Für die Geschichte der skandinavischen Staaten, Frankreich (Hugenottenkriege) und das Heilige Römische Reich hat dies immanente Folgen. Der Protestantismus wird zum ideologischen Abwehrschild Englands gegen Spanien (später auch Frankreich). Der Calvinismus spielt eine durchaus ernstzunehmende Rolle für die Identität der entstehenden Niederlande.
1618: Der Ausbruch des 30jährigen Krieges leitet ein generationenlanges Gemetzel ein. Weite Teile Mitteleuropas werden verwüstet, Schweden dringt als Großmacht ins Mächtegefüge ein, Frankreich kann sich durch die Schwächung des Reiches nach langer Zeit aus der habsburgischen Umklammerung (Spanien-Österreich) befreien. Deutschland wird wirtschaftlich, kulturell und auch administrativ nach hinten geworfen. Ein Grund für den Niedergang Italiens ist nicht so sehr bei der Entdeckung der Seewege nach Indien zu suchen, als vielmehr bei der dort wütenden Pest und dem Fehlen der deutschen Absatzmärkte. Atlantischer Handel beerbt endgültig den Mittelmeerhandel. Frankreich, die Niederlande und Großbritannien werden die bestimmenden Staaten. Spanien verliert seine weltweite Hegemonie.
Der Westfälische Frieden (1648 als Antwort auf 1618) legt den Grundstein für das neue europäische Mächtesystem.
1713: Der Friede von Utrecht folgt auf den Spanischen Erbfolgekrieg. Spanien verliert seine Rolle als Weltmacht, Großbritannien wird stattdessen auf den Meeren tonangebend. Die Pentarchie – zuerst Spanien, Großbritannien, Frankreich, Österreich, Russland; anschließend schlüpft Preußen immer mehr in die Rolle Spaniens – bildet sich in Europa als neues Gleichgewichtssystem aus. Die Stärkung Österreichs durch ehemalige spanische Territorien führt auch indirekt dazu, dass sich die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches nicht mehr so stark auf die Reichsgewalt stützen müssen, da sie über weitläufige Territorien außerhalb dessen verfügen. Nutznießer dessen ist zudem Savoyen, das ab diesem Zeitpunkt zu einer der führenden italienischen Mächte aufsteigt – und das Königreich Sardinien-Piemont formt.
1815: Wiener Kongress. Europa wird nach den Schrecken der Revolution und der Napoleonischen Kriege restauriert. Die Pentarchie etabliert sich aufs Neue. Preußen wächst nach Deutschland hinein (Rheinprovinzen), was im Zuge der Deutschen Einigung im folgenden Jahrhundert entscheidend wird; ebenso erweitert Sardinien-Piemont seine Macht, das wiederum den italienischen Einigungsprozess einleitet. Obwohl das System Metternich bis 1848 hält, war schon damals in der Bundesakte spürbar, dass der revolutionäre Geist nicht mehr in die Flasche zurückgesteckt werden konnte.
1914: Der 1. Weltkrieg ist die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Er bereitet den Zusammenbruch der Welt vor, wie man sie bis dahin kannte. Ohne 1. Weltkrieg ist der 2. Weltkrieg nicht denkbar. Es folgt das Zeitalter der Ideologien, das bipolare System der Blockstaaten – das bis 1989/1991 hält.
Zusätzlich zu diesen „Anfangszäsuren“ gibt es immer wieder eine Mittelzäsur: 1558/1559 (Abdankung Karls V./Frieden von Cateau-Cambresis), 1648 (Westfälischer Frieden), 1763 (Frieden von Hubertusburg), 1848 (Märzrevolutionen), 1945 (Ende des 2. Weltkrieges, Beginn des Kalten Krieges).
Im kleinen Kreis meinten wir dann damals, dass 2017 sich für eine neuerliche Zäsur anbiete. Allein: im Nachhinein betrachtet fehlt nach 1517, 1618, 1713, 1815, 1914 eher 2016…