Werfen wir daher nochmals einen Blick auf die eindeutigen Protagonisten mit ihren klaren und eindeutig zuweisbaren Lagern; denn im Gegensatz zu den manchmal sich widersprechenden Koalitionen des Dreißigjährigen Krieges sind die Verbündeten und Rivalen weitaus besser zu differenzieren, als uns die Medien weismachen wollen.
Da stände auf der einen Seite der Iran, der durch die Islamische Revolution von 1979 kein Stellvertreter amerikanischer Interessen ist, sondern seine eigene Machtpolitik zu betreiben versucht. Die Amerikaner hatten in den 80ern daher die Allianzen gewechselt und den Iran mit dem irakischen Nachbarn in einen der blutigsten Konflikte des Kalten Krieges verwickelt. Ein ganzes Jahrzehnt lang hielt dieser 1. Golfkrieg Iran und Irak beschäftigt. In den 90ern musste der Iran sich von dieser Auseinandersetzung erst erholen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Iran als aktive politische Regionalmacht erst seit der Jahrtausendwende wieder ins Rampenlicht tritt.
Die außenpolitische Lage kam der Regierung in Teheran dabei deswegen entgegen, weil die USA als Hegemon eine geradezu irrational-desaströse Politik betrieben. Der Einmarsch in den Irak bot den Ayatollahs die Möglichkeit, endlich wieder Kontakte zu den ihnen befreundeten Geistlichen im Geburtsland der Schiat Ali aufzunehmen. 60% der Iraker sind Schiiten. Eine schiitische Regierung war daher im Nachbarland, mit dem man eine Generation zuvor noch erbittert kämpfte, eine logische Folge. Statt dass der Iran durch amerikanische Basen in Afghanistan und Irak durch die USA eingekreist wurde, konnten die Iraner zum ersten Mal seit Jahrhunderten ihre Westfront absichern. Dass auch Afghanistan derzeit im Chaos versinkt, braucht an dieser Stelle kaum ausgeführt zu werden.
Ein weiterer Fehlschlag war die Intervention des US-Verbündeten Israel im Libanon 2006. Dort verbuchte die schiitische Hisbollah-Miliz solche Erfolge gegen die israelischen Invasoren, dass selbst einige sunnitische Gruppierungen deren Einsatz lobten. Da die Schiiten als Minderheit in der islamischen Welt zusammenhalten, war ein inoffizielles Bündnis zwischen der Levante und dem persischen Hochland nur eine Frage der Zeit. Ähnlich unterstützt Teheran die Huthi-Rebellen im Jemen; die dortigen Zaiditen sind eine Abspaltung der Schiiten, ähnlich wie es die Alawiten in Syrien sind, zu denen der Verbündete Baschar al-Assad zählt. Kurz: in den letzten 15 Jahren gewann die schiitische Sache mit dem Machtzentrum Iran bedeutend an Fahrt.
Führt man sich eine Karte vor Augen, so erkennt man leicht, dass es sich dabei um eine Brücke vom persischen Golf zum Mittelmeer handelt, ergänzt durch einen Brückenkopf im Jemen. Damit ist auch klar, dass diese ganze Politik sich nicht etwa (in erster Linie) gegen Israel oder die USA richtet, sondern gegen das dadurch eingekreiste Saudi-Arabien. Im selben Zusammenhang dürfte auch das iranische Atombombenprojekt weniger einem Angriffskrieg gegen Israel gelten, sondern als Abwehrschutz gegen einen möglichen amerikanisch-israelischen Erstschlag dienen und vor allem um seinen Großmachtstatus gegenüber dem saudischen Rivalen zu gewährleisten. Auch die Aufstände im mehrheitlich schiitischen, aber sunnitisch regierten Bahrein dürften von Teheran initiiert worden sein; Bahrein gehört zu den mit den USA und Saudi-Arabien verbündeten Golfstaaten.
In dieser Hinsicht übernimmt der Iran eine Rolle als „Verteidiger des Glaubens“. Allerdings auch deswegen, weil der Iran ansonsten keine Verbündeten in seiner Nähe aufbauen kann. Um seine Machtposition auszubauen ist das Land schlichtweg darauf angewiesen, dass schiitische Regierungen an die Macht kommen. Der nächste Verbündete ist Russland und – was weit weniger bekannt ist – Armenien. Ebenso wenig bekannt: der Iran gilt als potentieller Kandidat des von Russland geführten Militärbündnisses CSTO. Die iranische Armee ist vor allem mit sowjetisch-russischem Gerät ausgestattet.
Irans Öl- und Gasreichtum macht das Land zudem als strategischen Partner für China interessant. Die Chinesen zeigen dabei ihre Interessen im Nahen Osten weit weniger offen als die Russen und Amerikaner – wobei das der chinesischen Mentalität entspricht, seine Gegner eher im Ungewissen zu lassen. Es wäre wohl an dieser Stelle auch nicht ganz unwichtig zu erwähnen, dass Russland, China und Iran/Persien jeweils Staaten mit einer langen Geschichte sind, und allesamt Erben von Großreichen, die zu einem gewissen Zeitpunkt die ganze Welt in Atem hielten. Es handelt sich daher mit Sicherheit nicht um eine Vereinigung von „have nots“.
Saudi-Arabien hat aufgrund dieser Entwicklungen, die von amerikanischen Interventionen losgetreten wurden, die deutlich schlechtere Karte gezogen. Für die Hüter der Heiligen Stätten, die damit die Führung in der sunnitischen Welt beanspruchen, muss es einer Katastrophe gleichkommen, dass die Länder des Nahen Ostens immer mehr in den Orbit der schiitischen Schutzmacht fielen – und eines der wichtigsten Länder, nämlich der Irak, der vorher sunnitisch regiert wurde, nunmehr in schiitischer Hand ist; ähnlich verhält es sich mit dem sunnitischen Syrien in alawitischer Hand. Die schiitische Intervention im saudischen Vorgarten Jemen ist Provokation und Kampfansage zugleich: denn wenn die Schiiten hier siegen, ist dies nicht nur eine Niederlage für die gesamte sunnitische Welt, sondern bedeutet auch geostrategische Probleme für die Saudis.
Es ist bezeichnend, dass Saudi-Arabien seit letztem Jahr einen Angriffskrieg im Jemen führt, und das unter den Augen der gesamten Welt – ohne dass dies irgendwen zu kümmern scheint.
Letzteres ist nicht zuletzt deswegen der Fall, weil der amerikanische Verbündete trotz besseren Wissens immer noch die schützende Hand über seine treuen saudischen „Freunde“ hält. Ich betone: der saudische Verbündete, der die radikalen Islamisten unterstützt, finanziert und auch in Syrien angeheuert hat, um die schiitisch-alawitischen al-Assads zu stürzen. Der Islamische Staat ist zuletzt eine Chimäre, die sich aus den Ungeheuern amerikanischer und saudischer Geheimdienste gebildet hat (ähnlich wie auch Al-Quaida dazumal in Afghanistan; Geschichte wiederholt sich ja bekanntlich nicht!). Der IS ist die Vollendung jener radikalislamischen, wahhabitisch-islamistischen Ideologie, die an den saudischen Schulen der 80er ihren Ausgang nahm.
Dabei sitzen die Saudis selbst in der Zwickmühle, was ihre eigene Weltanschauung angeht. Denn der Aufstieg des Hauses al-Saud hängt eng mit der Förderung der Wahhabiten zusammen, die ihre Herrschaft legitimierten. Allerdings verstehen sich die salafistische Lehre und der Lebensstil der Könige von Arabien kaum. Die Wahhabiten wollen die reine, klare Lehre des „ursprünglichen“ Islam, sind also Puritaner im besten Sinne, während die herrschenden Prinzen im barocken Luxus und Sinneslust schwelgen. Die Öleinnahmen dienen daher nicht nur dazu, um den vielen Familienangehörigen ein schönes Leben zu versüßen, sondern auch, um mithilfe eines gut ausgebauten Sozialsystems die unruhige Bevölkerung zu anästhesieren. Da dies aber in den Augen der Radikalen nicht genug ist, finanziert Saudi-Arabien bereits seit Jahrzehnten jene Art von Terrorismus, dessen größter Coup die Zerstörung des WTC in New York war. Unter den Attentätern waren fast ausschließlich Männer mit saudi-arabischer Staatsangehörigkeit – aber kein einziger Afghane.
Vermutlich fährt man diese Strategie nicht zuletzt, um sich von Anschlägen freizukaufen. Denn unter den Puristen unter den Puritanern gelten auch die Saudis als dekadent. Dies mag sich widersprechen; es erinnert aber ebenso an die Al-Quaida-Soldaten in Afghanistan, die, von den USA unterstützt, den Tod Amerikas ersehnten.
Die Fronten sind also im Nahen Osten ganz klar verteilt:
Zum einen das schiitische Lager, das vom Iran angeführt wird, und das die alawitische Regierung Syriens sowie die schiitische Regierung im Irak unterstützt; dazu die schiitischen Minderheiten der Huthis im Jemen und die Hisbollah im Libanon; zuletzt die schiitischen Minderheiten in der Golfregion und Arabien selbst, wobei hier besonders Bahrein herausgehoben werden sollte.
Im Hintergrund stehen die Russen und – vermutlich mit Abstrichen – die Chinesen, und damit zwei der drei Weltmächte.
Zum anderen das sunnitische Lager, das von Saudi-Arabien angeführt wird, und die Regierungen in den Golfstaaten und im Jemen unterstützt; dazu die sunnitische Minderheit im Irak und die sunnitische Mehrheit in Syrien, wobei der IS hier mit Fug und Recht als deren mächtigster Vertreter angesehen werden kann. Ähnliches gilt für Abspaltungen des Gottesstaates in anderen Ländern.
Im Hintergrund stehen die USA als Weltmacht auf globalem Parkett. Das sind die machiavellistischen Fakten.
Weitaus spannender wird es, wenn wir uns Regionen ansehen, wo der Kontrast Sunniten-Schiiten eine geringere Rolle spielt. So beispielsweise in Libyen, das nach dem Sturz Gaddafis zum Spielball der dort agierenden Stämme geworden ist, und wo der IS ebenso Fuß fasst. Noch interessanter liegt es beim Fall der Türkei: die Osmanen waren einst die beherrschende Macht des Nahen Ostens. Obwohl sunnitisch, zieht Erdogan seine eigene Strategie durch, kommt dabei aber saudischen Interessen nicht offen in die Quere. Dass die Türkei den IS unterstützt, bewiesen französische Journalisten bereits vor zwei Jahren – denn Erdogan will Syrien ebenfalls unter seine Kontrolle bringen und die dortigen Turkmenen als fünfte Kolonne einrichten. Den Saudis könnte dies gelegen kommen und lassen die Türken gewähren.
Über die Türkei und Syrien kommen wir zu einem weiteren Konflikt, der eine Rolle spielt, aber von keinen Konfessionen gekennzeichnet wird. Die Kurden sind Sunniten wie die Türken, die Saudis und die Angehörigen des IS. Dennoch werden sie an zwei Fronten in die Mangel genommen. Mit konfessionellen Erklärungen kommt man hier nicht weit – vor allem, weil die Kurden als säkular-laizistisch gelten, was nicht zuletzt mit ihrer sozialistischen Prägung zusammenhängt. Einst waren die Sowjets ihre Verbündeten, um sie als Gegner zum NATO-Mitglied Türkei zu gewinnen. Die zweifelhafte Rolle der USA in dieser Region wird auch daran deutlich, dass sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sie ostentativ wie eine Monstranz vor sich herhalten, komplett vergessen, wenn es um dieses Volk geht, das seit Jahrhunderten um seine Unabhängigkeit kämpft, und dabei von Schiiten wie Sunniten, Türken wie Arabern stets eingehegt und unterdrückt wurde. Dabei waren es in den Kriegen gegen den IS gerade die Kurden, die sich am besten bewährten, und als einzige nicht von religiösen Gefühlen getrieben werden.
Schauen wir demnach auf die aktuelle Situation, sehen wir eine Melange aus vielen grundsätzlich verschiedenen Interessen; ethnischen und religiösen Konflikten; sowie Hegemonialpolitik auf lokaler, regionaler und weltweiter Ebene. Zudem wird offenbar, wie stark das Ausland in diesen Konflikt verstrickt ist. Der Krieg im Nahen Osten ist im Großen Maße von den Grenzziehungen der Europäer, dem Kalten Krieg, sowie den amerikanischen Interventionen ab dem Kuweit-Krieg beeinflusst. So zu tun, als handelte es sich „nur“ um einen religiösen Konflikt – denn in der Gesamtbetrachtung ist das Problem nicht nur facettenreicher, sondern auch noch weitaus verzwickter und damit: blutiger und grausamer – versperrt den Blick auf das Gesamtbild.
Einzig darin zeigen sich Gemeinsamkeiten mit dem Dreißigjährigen Krieg: die Lage ist weitaus schwieriger und komplexer, als ein reines Schlagwort es ausdrücken kann.