Aus den Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten von Giorgio Vasari; Einleitung zu Michelangelo.
Michelangelo Buonarroti
Geboren am 6. März 1475 zu Caprese bei Florenz. Gestorben am 18. Februar 1564 zu Rom
Hervorragende und eifrig strebende Geister, die sich vom Licht des hochberühmten Giotto und seiner Nachfolger leiten ließen, bemühten sich, der Welt die ihnen durch die Gunst der Sterne und durch eine glückliche Mischung der Säfte verliehene Kraft zu zeigen. Da sie aber so gut wie vergebens danach strebten, durch die Herrlichkeit der Kunst die Größe der Natur darzustellen und mit ihren Gaben zu jenem höchsten Verständnis zu kommen, das wir Intelligenz nennen, wandte der allgütige Lenker der Welten gnädig sein Auge zur Erde. Als er die Fruchtlosigkeit zahlloser Anstrengungen sah, die eifrigen Studien ohne Erfolg, den Eigendünkel der Menschen, der von der Wahrheit viel ferner liegt als die Dämmerung vom Licht, beschloß er, uns von so vielen Irrtümern zu erlösen. Er sandte einen Geist zur Erde, der allvermögend in jeder Kunst und jedem Beruf durch sich allein zeigte, was Vollkommenheit der Zeichnung sei, in Entwurf, Umriß, Licht und Schatten, wodurch Gemälde Relief gewinnen, der die Bildhauerei nach richtiger Einsicht zu üben und durch Kenntnis der Baukunst Wohnungen bequem, sicher, gesund, heiter nach richtigem Verhältnis und reich an mancherlei Schmuck aufzuführen wußte. Außerdem sollte er wahre Philosophie und die Zierde der Dichtkunst besitzen, damit die Welt ihn im Leben, im Wirken, in Heiligkeit der Sitten und allen menschlichen Handlungen als das höchste Vorbild achte und bewundere, so daß er von uns mehr als ein himmlisches denn als ein irdisches Gut erkannt werde. Und da er sah, daß in solchen Fertigkeiten und besonders in den Künsten der Malerei, Bildhauerei und Architektur die Talente Toskanas sich stets vor anderen hervortaten, daß sie mehr als irgendein anderer Stamm Italiens Fleiß und Studium in Wissenschaft und Kunst aufwenden, wählte er Florenz, ruhmwürdig vor den übrigen Städten, zu seiner Heimat, um dort die wohlverdiente endliche Vollendung aller Künste in einem ihrer Bürger vorzuführen.
So wurde dem Herrn Lodovico di Lionardo Buonarroti Simoni, der aus der edlen Familie der Grafen von Canossa stammen soll, im Jahre 1475 unter einem vom Schicksal bestimmten und günstigen Stern von einer ehrsamen edlen Frau im Casentino ein Sohn geboren, im gleichen Jahr, als Lodovico Podestà der Kastelle Chiusi und Caprese in der Aretiner Diözese war, nahe dem Felsen von la Vernia, wo Sankt Franziskus die Wundmale empfing, am sechsten März, einem Sonntag, um die achte Stunde der Nacht. Der Vater gab ihm den Namen Michelangelo – ohne weiteres Nachdenken, von etwas Höherem getrieben, da er ein ungewöhnliches, himmlisches und göttliches Gut in ihm zu erkennen glaubte, wie dies nachmals aus der Konstellation bei seiner Geburt hervorging. Denn Merkur und Venus standen im zweiten Haus des Jupiter unter günstigem Aspekt. Das war ein Zeichen, daß er einst durch Hand und Geist herrliche, bewundernswürdige Werke hervorbringen werde.
Nachdem Lodovico sein Amt als Podestà beendet hatte, kehrte er wieder zurück nach Settignano, drei Meilen von Florenz entfernt, wo er von seinen Voreltern her ein Gut besaß. Der Ort ist reich an Steinen, besonders an Sandsteinbrüchen, die ohne Unterlaß von Steinmetzen und Bildhauern bearbeitet werden, die meist in jener Gegend heimisch sind. Lodovico gab dort Michelangelo zu der Frau eines Steinmetzen, damit sie ihn als Amme nähre; deshalb sagte Michelangelo einmal im Scherz zu Vasari: »Giorgio, wenn mein Geist überhaupt etwas Gutes besitzt, so ist es daher gekommen, daß ich in der milden Luft von Arezzo, Eurer Heimat, geboren wurde, wie ich auch mit der Milch meiner Amme Meißel und Hammer eingesogen habe, womit ich meine Figuren mache.« Lodovico bekam mit der Zeit viele Kinder, und da er kein Vermögen und nur ein geringes Einkommen hatte, bestimmte er seine Söhne für die Woll- und Seidenweberei und gab Michelangelo, der schon herangewachsen war, in die Schule zu Herrn Francesco von Urbino. Der Knabe aber, der durch seine Begabung am Zeichnen Freude fand, verwendete darauf soviel Zeit als möglich, tat es jedoch heimlich, weil er von seinem Vater und von seinen Lehrern gescholten, bisweilen sogar geschlagen wurde, denn sie achteten vielleicht jene Kunst, die sie nicht kannten, für niedrig und ihrer alten Familie nicht würdig genug.
In dieser Zeit schloß Michelangelo Freundschaft mit Francesco Granacci, der ein Knabe seines Alters war und bei Domenico Ghirlandaio die Kunst der Malerei lernte. Da er Michelangelo liebte und seine Geschicklichkeit im Zeichnen sah, brachte er ihm täglich Blätter von Ghirlandaio, der nicht nur in Florenz, sondern in ganz Italien für einen der besten Maler galt. Hierdurch wuchs in Michelangelo von Tag zu Tag der Eifer, etwas zustande zu bringen, so daß Lodovico, als er die Unmöglichkeit sah, den Knaben vom Zeichnen abzuhalten, auf den Rat seiner Freunde beschloß, damit doch etwas dabei herauskomme und er die Kunst auch wirklich lerne, ihn zu Domenico Ghirlandaio in die Lehre zu geben.
So kam Michelangelo im Alter von vierzehn Jahren zu Domenico. Der Künstler und Mensch wuchs nun dermaßen, daß Domenico erstaunte, als er sah, wie er nicht nur seine Mitschüler, deren Zahl groß war, sondern auch in vielem die Arbeiten von ihm, dem Meister, übertraf. Als nämlich einer der jungen Leute, die bei Domenico lernten, mehrere weibliche Gestalten in Gewändern nach einem Vorbild Ghirlandaios mit der Feder gezeichnet hatte, nahm Michelangelo das Vorlageblatt und umzog mit einer stärkeren Feder eine jener Frauen mit neuen Linien, wie sie hätten laufen müssen, um völlig richtig zu sein.
In Michelangelo brachte jeder Tag immer göttlichere Früchte hervor, wie sich deutlich zu zeigen begann, als er einen Kupferstich von Martin dem Deutschen abzeichnete, der ihm einen großen Namen machte. Es war nämlich damals eine in Kupfer gestochene Darstellung des genannten Martin nach Florenz gekommen: Antonius, der von Teufeln geplagt wird. Michelangelo zeichnete sie mit der Feder nach in einer Art, wie man es vorher nicht gesehen hatte, und malte sie auch mit Farben aus. Zu diesem Zweck kaufte er, um einige seltsame Formen von Teufeln besser zu treffen, Fische mit eigenartigen farbigen Schuppen. Dabei zeigte er ein so bedeutsames Können, daß er sich Namen und Achtung erwarb. Außerdem kopierte er Blätter von verschiedenen alten Meistern so treu, daß man sie von den Originalen nicht unterscheiden konnte, denn er färbte, räucherte und beschmutzte sie auf verschiedene Weise, bis sie alt aussahen und man beim Vergleichen keinen Unterschied zwischen jenen und seinen erkannte. Er tat dies nur, um die Nachbildung an Stelle der Originale hinzugeben, die er behielt, wegen der Herrlichkeit ihrer Kunst bewunderte und durch seine Leistung zu übertreffen suchte. Durch alles dies erwarb er einen berühmten Namen.
Der Beginn der Biographie Michelangelos liest sich bei Vasari wie die Geburt des göttlichen Kindes der Kunst im Stall. Michelangelo, ein Nachfahre der Markgrafen von Tuszien? Se non è vero, è ben trovato!