Der wahre Verlierer der französischen Wahlen: Die Regionen!

16. Dezember 2015
Kategorie: Europa | Freiheit | Historisches | Machiavelli | Medien | Regionalismus

Bei der Regionalwahl in Frankreich wird das Offensichtlichste übersehen: vor lauter Le Pen Wahn ist Frankreich im sozialistischen Fieber und richtet seine regionale Identität zugrunde. Nutznießer, machtbesoffene Opportunisten und ewiggestrige Zentralisten geben sich dabei gegenseitig die Hand, um unter dem Deckmantel „Kampf gegen Rechts“ den zarten Keim des Regionalismus zu ersticken, den man so mit Mühe im Musterland des Zentralismus zu pflanzen versucht hatte.

Noch rühmt sich die europäische Heils- und Demokratiefront der Bannung des lepen’schen Dämons, den die Heilige Heerschar des Sozialisten Hollande und des Ex-Präsidenten Sarkozy in den Hügeln der Provence, bei den Nordseeküsten von Calais und an den Gestaden von Vater Rhein michaelsgleich schlug. Ein wahrlich interessantes Bündnis, welches da zum Sturmangriff gegen den Front (ja, meine verehrten Journaillenvertreter – der Front!) National rief: es waren die beiden schärfsten Rivalen bei der vergangenen Präsidentschaftswahl, in deren Zuge sich das strukturkonservative Frankreich zum Schwenk nach links entschloss; eine Wendung, die nicht nur damals, sondern bis heute viele der gallischen Nachbarn nicht verstehen, nicht nachvollziehen können.

Sarkozy musste mit seiner korrupten Kaste und der verfilzten UMP wahrlich tief im Ansehen seiner Landsleute gefallen sein: umso verwunderlicher die Medienreaktionen! Hatte man den Franzosen und seine Angetraute, die italienische Chansonsängerin Bruni, nicht einstmals kritisiert, wo es nur ging? Wegen ihrer Techtelmechtel; wegen Sarkozys mondänem Lebensstil; wegen der Korruptionsvorwürfe; wegen seiner Arroganz. Alles vergessen, wenn das Böse auf den Pfade von fromage et vin wandelt, und die fetten Pfründe der vollgefressenen Elite bedroht.

Macht ja nichts! Sollte es wieder Ärger geben, benennt Sarkozy „der Gescheiterte“ seine Partei einfach nochmal um. Gestern UMP, heute Republikaner, morgen… wer weiß das schon? Die Leute sind ja so vergesslich.

Mein innerer Machiavelli tanzt bei solchen Szenerien wie irre um ein Höllenfeuer herum, da er alle seine Thesen bestätigt sähe. Staat, Nation, Demokratie – das heißt stets: Erhalt des Status quo, Erhalt der eigenen Macht, und Kaschierung dieser Angelegenheiten mit Moral. Es ist ein Freudenfest für Zyniker! Ich könnte noch Absätze lang Gift und Galle speien, so herrlich ist der Anlass.

Aber nein, das ist nicht meine Aufgabe; denn der Regionalist in mir protestiert, er revoltiert, er schreit sich die Kehle aus dem Leib bei dieser Manipulation im Namen des Guten. Denn der größte Verlierer dieses Attentats auf den gesunden Menschenverstand sind zuvorderst: die französischen Regionen, bei denen es in dieser Wahl ging.

Ein Gedankenspiel: stellen wir uns vor, alle Landtagswahlen fänden an einem Termin statt. Nähmen wir zudem an, nur ein halbes Jahr vor diesem wichtigen Termin würde einfach die Hälfte der bestehenden Bundesländer aufgelöst und würden zusammengelegt. Teilweise auf Anordnung der Kanzlerin, die per Hand die neuen Grenzen zieht. Das hört sich auf dem Tableau so an, wie die Verschenkung der Krim zu Sowjetzeiten, als Chruschtschow eine 200 Jahre lang russisch dominierte Halbinsel in einer Bierlaune an die ukrainische Teilrepublik verscherbelte. Oder – um es noch bissiger zu sagen – als in Deutschland ohne Rücksicht auf regionale und historische Befindlichkeiten ein Kunstland wie Nordrhein-Westfalen geschaffen wurde (während ein Stadtstaat Bremen ohne Überlegung beibehalten wurde, weil amerikanische Insel im britischen Sektor).

Hört sich undemokratisch an? Ist es auch. Passierte nur im Herzland der kontinentaleuropäischen Revolution.

Man sollte eigentlich denken, dass solche wichtigen Entscheidungen, die das Zusammenleben von Millionen Franzosen betreffen, in Ruhe und langen Diskussionen geregelt werden. Egal. Wenn die Wahl vor der Türe steht, dann muss es schnell gehen. Sind ja nur Regionen – und ohne Zusammenlegung der Nordregionen wäre Le Pen am letzten Sonntag in den Geschmack des Pas-de-Calais gekommen. Alles für die Freiheit! Hollande ist der aufopferungsvollste Präsident seit Charles de Gaulle. Früher Hitler, jetzt Le Pen geschlagen. Quasi eine Resistance aus dem Elysee-Palast heraus.

Die Regionen Frankreichs vor der Reform

Neben den parteitaktischen Spielereien, welche nicht nur Le Pen schwächen, sondern auch die Sozialisten in wenigstens einer Region gegenüber den Republikanern stärken sollten, ergibt sich hier das Bild einer von oben geordneten Vernichtung regionaler, kultureller und dialektaler bzw. sprachlicher Identität. Es ist bezeichnend, dass sich die Medien aller Länder auf den Front National werfen, aber niemand von diesem Skandal berichtet, der jeden Regionalisten bis ins tiefste Mark treffen muss.

Zuvor ein kleiner Diskurs bezüglich der französischen Staatsform: wenn es ein Mutterland des Zentralismus gibt, dann Frankreich. Seit der Revolution war die Parisierung des Landes ausgemachtes Ziel. Das bekamen die Bretonen zu spüren, die in einem Genozid abgemetzelt wurden; das traf die Okzitanier, die ihre Sprache nicht mehr sprechen durften, und das traf die Korsen, die bis heute ein sehr zwiespältiges Verhältnis zum französischen Staat haben. Eine Nation braucht nur eine Sprache: und die Nation kennt keine regionalen Unterschiede, sondern nur Franzosen.

Es war daher ein logisches Ziel der französischen Revolutionäre ab 1789, jene königlichen, alten Regionen, aus welchen Frankreich bis dahin bestand, abzuschaffen. Diese historischen Regionen – wie Provence, Burgund, Auvergne und andere – besaßen eigene Privilegien. In vielen herrschte weiterhin die lokale Sprachvarietät und Kultur vor. Die Provencalen galten noch im 18. Jahrhundert den Korsen und Ligurern in ihrer Mentalität als deutlich näher.

Um dieses regionale, historisch gewachsene Gefühl zugunsten der Nation zu vernichten, schaffte man die relativ großen Regionen zugunsten der Departments ab; jener kleinen provinziellen Verwaltungseinheiten, die bis heute Frankreich prägen. Sie sind ein Symbol des modernen, seelenlosen Zentralstaats: nicht nach Städten sind sie benannt, sondern nach den jeweiligen Flüssen. Wie Aktenleichen in großen Ordnern sind sie nach Zahlen geordnet. Nichts ist vermutlich seelenloser als ein französisches Department, das nur ein kleines Glied im französischen Leviathan ist. Selbst der miefigste deutsche Kreis erscheint dagegen als springender Quell der Lebensfreude, und selbst wenn es sich dabei nur um den Zombie des völlig verhunzten Rhein-Sieg-Kreises handelt. Der Name des letzteren ruft ja bereits in Erinnerung, an wessen Vorbild man sich orientiert!*

In diesem klassischen, französischen Nationalstaat war die Kapitale alles, die Provinz nichts; die Entscheidungen fielen in Paris, nicht im Department; auch das der Grund, warum Frankreich im Gegensatz zu Deutschland oder Italien nur ein großes Ballungszentrum besitzt. Die Tyrannei des Zentralismus galt im 19. Jahrhundert als modern, selbst in Deutschland macht seitdem immer wieder das Unwort der Kleinstaaterei von sich reden, da insbesondere die Anhänger des linken Spektrums das Modell des westlichen Nachbarn kopieren wollten.

Erst im Zuge der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte unter dem Eindruck der europäischen Integration und des Gedankens der Subsidiarität – ja, man lese und staune: die alte EWG war mal Hort eines Gedankens der Dezentralisierung, Kommunalisierung und Verteilung von Kompetenzen auf untere Ebenen – führte man Regionen nach dem Modell anderer, föderalisierter EU-Staaten ein. Diese französischen Regionen hatten zwar immer noch im Verhältnis zu den deutschen Bundesländern wenige Kompetenzen, und waren nur ein zahmer Anfang dessen, was ein echter Föderalismus hätte sein können. Aber zumindest lebten so wenigstens zum Teil die historischen Regionen wieder auf, die über Jahrhunderte das französische Sein geprägt hatten.

Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass europäische Medien die Regionenreform Frankreichs als großen Wurf verkaufen wollen, wenn sie behaupten, die Zusammenlegung brächte ja mehr Kompetenzen. Das ist wieder: reine Heuchelei! Sehen wir uns doch die neue Karte mal genau an:

Die Regionen Frankreichs nach der Reform

Es gibt tatsächlich einige gute Gründe, warum man die beiden Normandie-Regionen zusammenlegt. Ähnlich könnte man bei der Franche-Comté und Burgund argumentieren. Spätestens bei der Fusion der südwestlichen Atlantikküste zu einem Moloch namens Aquitaine-Limouisin-Poitou-Charentes wird es fraglich, bei Auvergne und Rhône-Alpes lächerlich und zuletzt bei Champagne-Lorraine-Alsace skandalös. Ja, sind denn hier alle völlig durchgedreht?

Was nützen mir bitte größere Kompetenzen, wenn die regionale Identität nicht gewahrt wird? So werden anstelle von homogenen Sprach- und Kulturräumen mit historischer Bedeutung nur noch geografische Wirtschaftszonen zusammengezimmert. Es ist das komplette Gegenteil dessen, was echten Regionalismus ausmacht. So werden diese neuen Wirtschaftszonen Frankreichs zu rein geografischen Verwaltungsorganen. Wie soll da ein „Wir“-Gefühl in den Ländern zusammenkommen? Was bitteschön haben Elsässer und die Bewohner der Champagne gemein? Dass sie beide in Frankreich leben? Dazu braucht es keine Regionen mehr!

Solche Ideen können nur aus sozialistischer Hand stammen. Man degradiert den Regionalismus zum reinen Erfüllungsgehilfen und bewahrt den Anschein, irgendein Interesse an Subsidiarität zu haben. Mit der Mentalität könnte man auch einfach vier Regionen machen, eine in jeder Himmelsrichtung. Ich kann auch Bayern, Hessen und Baden-Württemberg zusammenlegen, denen Autonomie geben, und daneben ein halbautonomes Restdeutschland zusammenfassen. Das ist dann zwar im Sinne der EU, hat aber mit Subsidiarität, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Identität und Regionalismus rein gar nichts zu tun.

Um es mal ganz klar zu machen: Aquitanien mit seinen gascognischen Sprachvarianten und das Limousin zählen zum okzitanischen Sprachraum, die Dialekte des Poitou zum Französischen im engeren Sinne. Ähnlich bei dem Auvergnesischen, das ebenfalls zum Okzitanischen gehört, im Gegensatz zum mehrteils in den Rhône-Alpen gesprochenen Dialekten der Arpitanischen Obergruppe.

Wer mit dem Sprachwirrwarr nicht zurechtkommt: die Unterschiede zwischen dem Langue d’oil (Französisch im engeren Sinne), dem Arpitanischen und dem Okzitanischen ist etwa so groß wie der zwischen Niederdeutschem, Mitteldeutschem und Oberdeutschem. Bayern treffen auf Kölner, mit Alaaf, Tätä und Saupreissnparade!

Dass Savoyen mit seiner ganz eigenen Geschichte und seiner Zugehörigkeit zum italienischen Kulturraum bis 1860 nun einer Zone mit der zentralfranzösischen Auvergne angehört, ist ebenso eine Lächerlichkeit wie der Umstand, dass die Auvergne wohl als kleines Hinterland des Lyonnais völlig in den Hintergrund gedrängt wird. Man wird noch erleben, wie eine ehemals kleine, selbstständige Region innerhalb dieser Großregion wohl verwahrlosen wird; die Auvergnesen leisteten Widerstand, aber so ist das nun mal in einem Zentralstaat der Demokratie, der die „Rechten“ um jeden Preis bekämpfen muss.
Aber pardon! Es geht ja um mehr „Rechte“ für die Regionen. Sagt Hollande.

Von den historischen Zugehörigkeiten will ich erst gar nicht anfangen. Warum ausgerechnet Aquitanien mit dem Poitou zusammengeschlossen wird, obwohl die Fusion mit Midi-Pyrénées deutlich sinnvoller erschiene (altes Herzogtum Guyenne), lässt einen nur den Kopf schütteln. Man will gar nicht länger darüber nachdenken.

Die historischen Regionen Frankreichs vor 1789

Es sollte in Deutschland ja nichts mehr wundern; aber gerade hier, wo Italien für jedes Fingerchen, das man gegen Südtirol krümmt, bereits als schamloser Itaka angesehen wird, erscheint es doch sehr seltsam, dass die Rolle des immer noch fremdokkupierten Elsass in dieser Reform nahezu vollständig unter den Tisch fällt. Während Südtirol ein Autonomiestatut genießt, wie es sich andere europäischen Minderheiten nur erträumen können, wurden die Elsässer mit ihren minderklassigen Regionalrechten bisher abgespeist. Nun sollen sie auch noch diese verlieren.

Straßburg liegt nunmehr in einer Region mit der Champagne. Glücklich werden damit beide nicht.

Hat jemand mal an die Rechte der dortigen deutschen Minderheit gedacht? Wie soll denn noch das deutsche Erbe in einer Region durchgesetzt werden, die nun zum größten Teil französisch ist? Das Elsass darf nun als wirtschaftliche Hirnanhangdrüse Lothringens und der Champagne herhalten! Auch hier gab es Hauen, Stechen, Beißen: nichts genützt, Paris hat gesprochen, Paris hat entschieden. Neben diesem himmelschreienden Skandal gegen die Rechte regionaler Identitäten kommt auch noch parteipolitische Schmiererei dazu; denn die Champagne und auch Lothringen hatten nicht selten eine sozialistische Mehrheit, während das Elsass selbst in den Zeiten der roten Sturmwellen eine blaue Insel im Wahlmeer blieb. Die Sozialisten wollten sich durch diesen Coup also auch einer UMP/Republikaner-Bastion entledigen.

Man kann nur Schadenfreude darüber empfinden, dass Hollande seinen Kandidaten zurücknehmen musste, um Le Pen zu verhindern, weshalb nun die ganze Nordostregion in den Händen Sarkozys ruht.

Wie scheinheilig dieses Komplott ist, zeigt sich an der Bretagne, die natürlich ihre Region behalten durfte. Offiziell wegen der regionalen Besonderheit; denn hier ist das Argument plötzlich vollkommen wohlfeil! Natürlich hat es nichts damit zu tun, dass die Bretagne eine sichere, sozialistische Hochburg ist.

Dass alles geschieht unter unseren Augen, mitten in Europa. Es ruft die Kreisreformen im Deutschen Reich in Erinnerung, deren Zuschnitt dazu führte, dass die bismarck-nahen Parteien eine bessere Chance auf den Wahlsieg hatten. Hier wird zusammengewürfelt, was nicht zusammengehört. Ein tyrannischer Akt will die Identität regionaler Gemeinschaften auflösen.

Wenn der Feind rechtsextrem ist – dann ist in Europa alles erlaubt. Entscheidungen werden über Millionen Köpfe gefällt. Wahlen werden „zu einem guten Zweck“ beeinflusst. Grenzen werden autokratisch neu gezogen. Man könnte auch sagen: die Regionenreform mit ihrer Ignoranz gegenüber regionalen Befindlichkeiten ist eine EU-isierung der französischen Regionalpolitik.

Aus Angst vor dem Tod begeht die Demokratie Selbstmord.

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*Ich traue jedenfalls keiner Verwaltungseinheit, die nach einem Fluss benannt ist. Namen wie „Alto Adige“ (Hoch-Etsch) für Südtirol geben mir da wohl Recht.
Ausnahme sind natürlich echte Länder. Wie das Rheinland.
Beispielsweise.

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