Das Denkmal

10. November 2015
Kategorie: Die Euganeischen Anekdoten | Freiheit | Historisches | Italianità und Deutschtum | Zum Tage

In den Zeiten, in denen die Welle der Wirtschaftskrise über den Atlantik schwappte, und unzählige Leben vernichtete, gelangte in Leipzig Carl Friedrich Goerdeler in das Amt des Bürgermeisters. Leipzig war eine der Musenstädte Deutschlands, berühmt für seine Buchmesse und sein Gewandhaus, dessen Orchester einen hervorragenden Ruf in der Welt genoss; es hieß, dass die Berliner Philharmoniker nur die Konkurrenz aus dem kleinen, sächsischen Paris fürchteten. Vor dem Musiktempel erhob sich das Denkmal Felix Mendelssohn-Bartholdys, der wie kein anderer die Jugend und Energie der deutschen Romantik verkörperte. Ungestüm und heftig brandeten seitdem die Töne seiner Sinfonien durch die Ohren der Zuhörer, und noch immer hielt man ihn in Leipzig in besonderen Ehren, wo er gelebt, gewirkt und seine letzten Tage verbracht hatte.

Wie der Rheinländer Adenauer in Köln, so regierte auch der Preuße Goerdeler in Leipzig wie sein eigener Herr. Dies änderte sich erst im Januar des Jahres 1933, als die Fackelzüge durch Berlin streiften und eine neue Epoche ankündigten. Goerdeler hörte im Radio von den Märschen, und verblieb – trotz Warnungen – im Rathaus, um einen Umsturz zu verhindern. Doch als die Bewaffneten hineinstürmten, erkannte der Bürgermeister, dass die Machtergreifer ihn umzingelt hatten. Entweder sollte er seinen Stuhl räumen, oder den Nationalsozialisten beitreten. Goerdeler dagegen wusste, dass die Leipziger hinter ihm standen, und tat weder das eine, noch das andere. Andere Bürgermeister wichen aus Furcht, Goerdeler aber blieb, weil er um die Liebe des Volkes wusste. Als die Soldaten Hitlers das Feld wieder räumten, weil sie es nicht mit der ganzen Stadt aufnehmen wollten, riet ein Sekretär dem Bürgermeister dazu, zurückzutreten: noch hätten die Schlächter nicht das passende Messer, um ihn umzubringen, aber das sei nur eine Frage der Zeit. Goerdeler dagegen entgegnete, dass er nicht fliehen werde: er werde bleiben, und seine Stadt verteidigen. Deutschland wolle er nicht Hitler überlassen – das aber könne er nur, wenn er Bürgermeister bleibe, und als Politiker das Schlimmste abwendete.

So blieb Goerdeler der einzige Oberbürgermeister in Sachsen, und nur einer von vieren im gesamten Reich, die nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler auf ihren Posten blieben. Der Preuße hielt den Rückzug für Feigheit vor dem Feind. Und immer wieder wagte er zu widersprechen. Als die Nationalsozialisten die Hakenkreuzflagge am Rathaus hissen wollten, antwortete Goerdeler mit Schwarz-Weiß-Rot. Als man den reichsweiten Boykott der Juden verlangte, provozierte der Bürgermeister die Schergen Hitlers, die von ihren Wachposten zusehen mussten, wie er jüdische Pelzhändler auf dem Bühl besuchte. Und als man den Städten ihre Freiheiten nahm, und auf den Bürgerwillen verzichtete, sprach er von einem Unglück für das ganze Vaterland, dessen Ursprung jene Mechanisierung und Gleichmacherei war, die jedes Leben ersticken musste.

Am stärksten rieb sich Goerdeler aber an den wirtschaftlichen Fragen. Die Staatswirtschaft und den Willen zur Selbstversorgung hielt der Leipziger Oberbürgermeister für einen Irrweg. In einer Denkschrift forderte er wieder mehr Pragmatismus, das Spiel des freien Marktes und eine Sparsamkeit, wie sie zuletzt der Große Kurfürst von Brandenburg gezeigt hatte. Doch auch hier stieß er auf kein Gehör. Desillusioniert darüber, dass er auch hier nichts bewegen konnte, zog sich Goerdeler zurück, und wollte fortan nur noch Leipzig dienen, um zu schützen, was er schützen konnte.

Seine Feinde ließen ihm jedoch keine Zeit zur Ruhe. Es brauchte einen Sieg gegen den aufmüpfigen Bürgermeister, dessen Name sich bereits im Ausland herumsprach. Dabei erwies es sich als schwierig, Goerdeler zu entheben: der Preuße war staatstreuer und deutscher, als manches Mitglied in der Partei. Da fiel den Nationalsozialisten das Denkmal Mendelssohns vor dem Gewandhaus ins Auge:

»Das Denkmal muss weg, denn es zeigt einen Juden.«

Wenig später erreichte Goerdeler eine Petition, dass das Mendelssohn-Denkmal entfernt werden müsse. Der Bürgermeister lehnte sich in seinen Stuhl am Schreibtisch zurück, und überlegte, wie er auf diesen Vorstoß reagieren sollte. Denn es war klar, dass Leipzig ohne Mendelssohn so wenig Leipzig sein würde, wie die deutsche Romantik ohne Mendelssohn noch deutsche Romantik. Bei politischen Entscheidungen war er zurückgewichen, in wirtschaftlichen Fragen hatte er sich zurückgezogen. Doch nun, da sich die Nationalsozialisten an der Kultur vergriffen, zeigten sie ihr wahres Gesicht. Da war keine vaterländische Liebe, kein Instinkt für das deutsche Wesen, sondern nur noch blinde Bilderstürmerei. Da die Feinde aber so mächtig geworden waren, und sie immer weniger Widerstand antrafen, wusste Goerdeler, dass er vorsichtig sein musste.

Am nächsten Tag glaubten die Bilderstürmer gewonnen zu haben: der Oberbürgermeister stimmte einer Verhandlung über den Abbau des Denkmals zu! Als es jedoch zur Diskussion kam, machte Goerdeler unmissverständlich klar, dass er selbst für den Verbleib des Denkmals stimme. Dessen Zukunft sollte daher von den wichtigsten Reichsstellen geprüft werden.

Monate vergingen – und die Gegner des Denkmals begriffen, dass der Oberbürgermeister nur zum Schein auf ihr Anliegen eingegangen war. Der wusste nämlich genau, dass die Mühlen der Bürokratie langsam mahlten, und es Jahre dauern mochte, bis man über den Verbleib oder Abriss entschieden hatte. Das hieß: solange Goerdeler blieb, so lange blieb auch das Denkmal des jüdischen Komponisten. Der Bürgermeister glaubte, den Erhalt des Denkmals gesichert zu haben, und brach im Spätherbst zu einer Reise nach Skandinavien auf, um dort einen Vortrag zu halten.

An einem 9. November machten sich die Bilderstürmer an die Arbeit, nutzten Abend und Nacht aus, und brachen den Mendelssohn ab. Keine Zeitung, keine Radiomeldung berichtete darüber. Noch im Ausland erfuhr der Oberbürgermeister von der Tat, reiste zurück, und eilte zum Gewandhaus, wo ihn nur noch der öde Granitblock als Zeuge des Raubes blieb. Ein Mann aus der Partei, der sein Ziel erreicht hatte, stellte sich süffisant zum rückgekehrten Goerdeler, der fassungslos in die Leere starrte, wo früher der bronzene Komponist im Sonnenschein gestanden hatte.

»Worüber regen Sie sich auf?«, sprach der Mann herablassend. »Da ist doch nichts mehr, über dass Sie sich aufregen können.«

Goerdeler wartete, wendete den Blick nicht ab. Deutschland, das war eine Nation, die von der Kunst lebte, und welche die Kunst geboren hatte. Wer die deutsche Kunst verriet, der verriet das Deutschtum selbst.
Und Goerdeler drehte sich um, würdigte den Mann keines Blickes, und kehrte dem Tatort den Rücken.

»Nichts fällt mehr ins Auge, als ein verschwundenes Denkmal.«

Danach trat Goerdeler von seinem Amt zurück, ging in den Widerstand und gründete jenen Zirkel von Hitlergegnern, denen später Oberst von Stauffenberg beitreten sollte – denn dort, wo Denkmäler verschwanden, verschwanden auch Leute.

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