Warum die EU nicht Europa ist

Unter Preisgabe ihrer Werte hat die EU ihre Identität verloren. Adenauer und de Gaulle werden beschworen, statt ihre Ideen zu leben. Die Identitätskrise der EU ist die symptomatische Krise des Abendlandes.

Amerika fußt auf seiner Verfassung und seiner Revolution. Worauf fußt Europa? Frei nach Theodor Heuss: auf drei Hügeln. Da wären zuerst Athen und seine Akropolis zu nennen. Wir assoziieren das alte Griechenland nicht nur mit einer frühen Form der Demokratie, sondern auch mit der Philosophie des Sokrates, die als Sockel abendländischer Selbstreflektion gelten kann; mit den Epen Homers, die Grundlage unserer Literatur sind; mit der Abwehr gegen das Perserreich und dessen Eroberung durch Alexander.

Gleichermaßen ist das Kapitol Roms nicht allein Sitz der politischen Dimension des Römischen Weltreiches. Rom lebt in unseren Tagen im Römischen Recht fort und ist materiell greifbar, wenn man sich ins Bewusstsein ruft, dass die ältesten Städte Deutschlands römische Gründungen sind. Römische Architektur lebt bis in unsere Zeit fort und ist ein Zeichen für jene überdauernde Ewigkeit, die das Imperium Romanum in unserem Gedächtnis hinterlässt.

Der Einheit des römischen Kulturraums war es zu verdanken, dass sich ab der Förderung durch Kaiser Konstantin das Christentum in der Art entfalten konnte, wie wir es heute kennen. Hier kommt der dritte Hügel – Golgatha – ins Spiel. Das Christentum prägte eine ganze Zeitepoche und ist bis heute die lebendigste Kraft unseres Kontinents. Mit dem Christentum verbunden ist das Judentum, aus dem es hervorging. Kritiker wenden ein, dass die Juden in Europa jahrhundertelang verfolgt und diskriminiert wurden, weswegen sie eine solche jüdisch-christliche Konstruktion verwerfen. Diese Darstellung ist aber nicht minder verkürzend: den größten Teil der Bibel bildet das Alte Testament. Ein Christ, der das Judentum als Quelle verleugnet, leugnet seine eigene Herkunft.

Europa ist demnach zuerst ein kulturelles Phänomen. Dass diese kulturelle Kraft die grundlegende der europäischen Idee ist, zeigt sich an den Überzeugungen der politischen Gründungsväter eines gemeinsamen Europas. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle beriefen sich auf ihre christlichen Überzeugungen und das Frankenreich Karls des Großen; letzterer verstand sich als Nachfolger römischer Imperatoren. Von der Aufklärung oder den Werten der amerikanischen Revolutionäre war hier keine Rede – ebenso wenig von der pursuit of happines. Das Streben nach Glück ist bis heute in der Verfassung der USA verankert, und dominiert unterschwellig auch die europäischen Gesellschaften. Große Europäer wie Peter Scholl-Latour, die noch im Jesuitenkolleg gelernt hatten, dass die Welt ein „Jammertal“ sei, konnten über solche Ansichten nur spotten.

Das politische Europa entstand daher in Abgrenzung zu den USA auf der einen, und der Sowjetunion auf der anderen Seite. Adenauer sah darin die Rettung des christlichen Abendlandes, die auch ohne die kommunistische Gefahr notwendig war. Diese europäische Integration sollte die Völker Europas jedoch nicht einschnüren, sondern Stütze sein. Adenauer wie de Gaulle waren die Eigenarten ihrer Völker bewusst. Selbstbehauptung und Subsidiarität sind bestimmende Gedanken der politischen Geburt eines Kerneuropa, das in seiner geographischen Dimension dem Frankenreich Karls des Großen ähnlich war.

Fasst man diese Anfangsideen zusammen, so ist der derzeitige Zustand des europäischen Projektes nicht verwunderlich. Die gegenwärtige „Generation Brüssel“ hat nicht nur das Konzept der Einheit über jenes der Subsidiarität gestellt, sondern sich vom europäischen Geist der Gründungsväter weiter denn je entfernt. Die EU bedient heute den Dreiklang von offenen Grenzen, Währungsunion und Frieden, um die eigene Erfolgsgeschichte zu propagieren. Das Scheitern des Euros wird gleichgesetzt mit dem Scheitern Europas, da sich die EU in einer neuen Ideologie verfangen hat, die der Kernidee Europas fern ist.

Dem leidenschaftlichen Bekenntnis zu abendländischen Werten und der Verteidigung außenpolitischer Autarkie ist die leidenschaftslose Verwaltungsmentalität Brüsseler Prägung gewichen. Die Beschwörung deutsch-französischer Freundschaft ist zu einem bloßen Ritual verkommen. Die Euro-Krise ist zum Menetekel der europäischen Zukunft geworden. Nigel Farage (UKIP) unterstellte dem EU-Ratspräsidenten das „Charisma eines feuchten Waschlappens“. Für die Bewohner der EU-Mitgliedsstaaten ist van Rompuy damit indirekt zum Symbol der EU in ihrer heutigen Gestalt geworden, obwohl die Mehrheit ihn nicht einmal kennt.

Europa steckt in einer Identitätskrise. Das ist folgerichtig, da es um die Nationen des Kontinents nicht anders steht. Der Zeitgeist des Relativismus, den die Eliten in der Hoffnung auf Überwindung von Intoleranz, Rassismus und Nationalismus selbst gepredigt haben, kehrt wie ein Bumerang zurück und zerstört zugleich die nötigen Überzeugungen, die für gesellschaftlichen, nationalen und supranationalen Zusammenhalt nötig sind. Ohne feste Überzeugungen fehlt jener Esprit, der Anlass zum Glauben und Hoffen gibt.

Dem Islam, der seit dem 7. Jahrhundert das Abendland als Gegenentwurf herausfordert, wird in ganz Europa nicht mit der dezidierten Kraft der eigenen Überzeugungen entgegengetreten, sondern stattdessen im Zuge einer falsch verstandenen Toleranz. Dies betrifft nicht nur das römische Rechtsverständnis, sondern auch den christlichen Glauben, aus dem sich das europäische Menschenbild speist. Die von vielen Meinungsmachern als säkulares Gegenbild hochgejubelte Aufklärung fand nur in Europa und dessen amerikanischen Kolonien statt; nicht aber im Nahen Osten, wo die Antike ebenfalls rezipiert wurde. In diesem Sinne beruht unser Menschenbild, ob nun atheistisch oder religiös fundiert, stets auf seinem jüdisch-christlichen Ursprung. Dieses nicht zu verteidigen kommt jener Art von Gottlosigkeit gleich, welche nicht nur der Islam, sondern die Mehrzahl der Weltreligion verurteilen. Freunde oder Frieden gewinnt man damit keinen – sondern Verachtung.

Außenpolitisch macht sich die EU zur Erfüllungsgehilfin der NATO und der USA. Die NATO-Osterweiterung bedeutet einen Freifahrtschein zum EU-Beitritt. Von 1958 bis 1995 erweiterte sich die Gemeinschaft von 6 auf 15 Staaten; in den wenigen Jahren bis 2007 kamen gleich 12 Staaten hinzu. In ihrer Strategie, das westliche Bündnis auf Kosten der Ex-Mitglieder des Warschauer Paktes zu erweitern, ermuntern die USA die EU zu einer historisch beispielslosen Überspannung der eigenen Kapazitäten, welche außenpolitische Ambitionen zunichtemacht.

Noch schlimmer: trotz europäischer Wirtschaftsinteressen manövrieren die USA den Kontinent in einen Gegensatz zu Moskau. Russland ist aber kein Gegner Europas, sondern die letzte europäische Großmacht. Gorbatschow hatte nach dem Kalten Krieg ein gemeinsames Haus Europa gestalten wollen; ähnlich, wie Russland von Peter dem Großen bis zur Oktoberrevolution ein immanenter Bestandteil des europäischen Mächtekonzerts war. Die EU hat dagegen die Erweiterung zum Selbstzweck erhoben, ohne Rücksicht auf eigene Interessen – und übernimmt amerikanisches Sendungsbewusstsein. Dass der türkische Beitritt an Bedeutung verloren hat, ist weniger auf eine europäische Rückbesinnung, als auf die Regionalmachtpläne Erdogans zurückzuführen, der den Nahen Osten als neu-osmanische Einflusssphäre ansieht.

Die Realität Europas ist ernüchternd, betrachtet man sie aus der Warte des europäischen Traumes von Adenauer und de Gaulle. Wo ist Europa heute noch lebendig? Dort, wo europäische Werte gelebt werden.

Heimatverbundenheit und Familiensinn sind immer noch die Norm in weiten Teilen Europas, ganz im Gegensatz zum medialen Bild von Patchwork, Weltbürgertum, Agnostizismus und übersexualisierter Avantgarde. Das Herz schlägt dabei mehr in den Regionen als den Nationen Europas, wo die eigene Herkunft in der globalisierten Welt stärker denn je betont wird. Nicht der Gedanke der Einheit, sondern jener der Freiheit, der Selbstbestimmung und der Herkunft spielen die primäre Rolle. In nahezu jedem europäischen Land existiert eine solche Bewegung.

Paradoxerweise gelten deren Mitglieder nach Auffassung der EU-Administration als Anti-Europäer, obwohl sie mit dem Subsidiaritätsgedanken die Kernidee der Gründungsväter der 50er Jahre vertreten. Der Fall ruft Erinnerungen an die politischen Kämpfe im Zuge der deutschen und italienischen Einigung wach. Diejenigen, welche die nationale Einheit als Selbstzweck forcierten, beschimpften ihre Gegner, für die eine Einheit ohne Freiheit nicht infrage kam. In beiden Ländern setzte sich die „Einigung von oben“ durch. Die Einheitsbefürworter verleumdeten ihre Mitbürger als Querulanten, da letzteren Parlamentarismus, Bürgerrechte und Demokratie wichtiger waren als die große Vereinigung der Nation.

Das europäischste Land ist folgerichtig kein Mitglied der EU, obwohl es im Zentrum des Kontinents liegt: die Schweiz. Nach außen hin selbstbewusst und unabhängig, nimmt sie sogar Konfrontationen mit weit mächtigeren Ländern und Institutionen auf. Im Inneren basisdemokratisch-freiheitlich organisiert, ist ein bedeutender Grund für ihre Stabilität die Betonung der regionalen, kantonalen Identität. Die vier Sprachgruppen leben friedlich innerhalb eines Gefüges, weil Deutschschweizer, Romands, Tessiner und Rätoromanen nicht zwanghaft zusammengepresst und „gleichgemacht“ werden. Aufgrund ihrer Rechte und Autonomien leben die Eidgenossen in erster Linie nebeneinander und nicht miteinander. Die Stärke der Identität speist sich aus der Pflege der eigenen Einzigartigkeit.

Hier schließt sich der Kreis zu Adenauers und de Gaulles Vorstellungen eines neuen Europas. Ein Weggefährte Charles de Gaulles, der Schriftsteller André Malraux, prognostizierte damals: „Das 21. Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Religion sein, oder es wird nicht sein.“ Im Bewusstsein der Wurzeln Europas ist dem hinzuzufügen: Europa muss wie die Schweiz sein, oder es wird nicht mehr sein.