Visegrad – Vorbild für ein neues Europa?

Oelberg

In einem vorherigen Beitrag hatte ich bereits die Visegrad-Staaten zu einem Thema gemacht. 1991 gründete sich dieser lose Bund aus Ungarn, Polen und der damaligen Tschechoslowakei vor allem unter dem Eindruck einer möglichen russischen Bedrohung. Die Visegrad-Gruppe (auch: V4) benannte sich nach der Stadt Visegrád, wo sich im Spätmittelalter die Könige Polens, Ungarns und Böhmens zweimal zudammengefunden hatten.

1335 trafen sich dort König Kasimir III. von Polen, Karl I. von Ungarn und Johann I. von Böhmen um eine Allianz zu gründen, die sich vornehmlich gegen die Habsburger richtete. Zudem verzichtete Johann – der damals Anspruch auf den polnischen Thron erhob – gegen eine Geldzahlung auf diesen; im Gegenzug erkannte Kasimir die Oberherrschaft Böhmens im umstrittenen Schlesien an. Karl von Ungarn betätigte sich bei den Verhandlungen als Mediator, und schlug für sein eigenes Land die Errichtung neuer Handelsrouten heraus. Das Treffen hatte demnach militärische, wirtschaftliche und politisch-dynastische Aspekte. Die drei großen Mächte des östlichen Mitteleuropa legten ihre Konflikte bei und paktierten friedlich miteinander, um sich gegen äußere Feinde abzusichern.

1339, also vier Jahre später, trafen sich in Visegrád erneut die drei großen Monarchen. Kasimir III. hatte keine männlichen Nachfolger, und vereinbarte daher mit Karl von Ungarn, dass dessen Sohn Ludwig gemeinsamer König von Polen und Ungarn werden sollte. Das kam nicht von ungefähr: Kasimirs Schwester Elisabeth war mit Karl verheiratet. Kasimir war demnach Karls Schwager und Ludwigs Onkel. Ludwig von Ungarn, der dann tatsächlich 1342 zuerst König von Ungarn, und nach Kasimirs Tod 1370 auch König von Polen werden sollte, hatte zwar eine polnische Opposition gegen sich, gilt aber bis heute als der mächtigste ungarische Herrscher, der über ein Reich regierte, dessen „Ufer von drei Meeren“ umspült wurde.*

Es sei dabei angemerkt, dass eben dieser Ludwig, der in Personalunion die beiden Königreiche regieren sollte, 1326 in Visegrád geboren wurde. Und es sei auch angemerkt, dass die Schlüsselgestalt Kasimir bis heute in der polnischen Geschichte den Beinamen „der Große“ hält. Und – so viel Zeit muss sein – es sei überdies zusätzlich angemerkt, dass auch Ludwig als „der Große“ bezeichnet wird.

Viségrad ist damit ein ganz erheblicher Dreh- und Angelpunkt der ostmitteleuropäischen Geschichte, und insbesondere für die polnisch-ungarische Freundschaft, sowie einer Epoche, die man allgemeinhin als Glanzzeit im Kulturgedächtnis dieser Völker ansehen kann. Visegrád ist ein Mythos, und wer ihn weckt, der ruft damit Bilder, Erinnerungen und Ziele wach.

Neben diesen historischen Hintergründen – deren Aktualität mal wieder erstaunlich ist – sollte man sich die aktuelle wirtschaftliche und politische Lage vor Augen halten. Hier hilft etwas italienische Renaissancepolitik alla Machiavelli weiter.

Wie meine ich das?

Außenpolitik verläuft zumeist friedlich, wenn es mehrere, gleichstarke Blöcke gibt, die sich in der Waage halten. Italien erlebte im 15. Jahrhundert eine lange Friedensphase (1454-1494), weil sich die fünf Großmächte der Halbinsel – Mailand, Venedig, Florenz, Kirchenstaat, Neapel – in Bündnissen die Waage hielten. Machiavelli prognostizierte damals einen „certo modo die bilancia“, also eine gewisse Art des Gleichgewichts (wörtlich: der Waage). Im 18. Jahrhundert übernahmen die Briten mit ihrer „balance of power“, dieses ursprünglich italienische Grundmodell. Auch Bismarck benutzte dieses Diktum, indem er mit den „Bällen“ Frankeich, Österreich, Preußen, Russland und Großbritannien jonglierte. Ein Grundsatz dieses außenpolitischen Konzeptes besteht darin, einen Hegemon oder eine starke Allianz im Keim zu ersticken, um den Gegner nicht zu stark werden zu lassen. In diesem Streben nach Gleichgewicht kommen die Mächte an einen Punkt, der die Kriegsführung nur unter potentiell großen Verlusten ermöglicht. Krieg wird damit prinzipiell zu teuer – und diplomatisches Übereinkommen interessanter. Das schließt den Krieg nicht prinzipiell aus, aber es macht ihn unwahrscheinlicher.**

Es ist zudem hochinteressant, das solche Modelle auf regionaler wie globaler Ebene hervorragend bei Pentarchien – heißt: Fünf Mächten – funktionieren. Der Ausbruch des 1. Weltkriegs ist nicht zuletzt einer stümperhaften deutschen Außenpolitik zu verdanken, die sich aus ideologischen Motiven erst in die Situation eines 2:3 hineinmanövrierte, statt vorausschauend und auf strategische Weise diesen worst case abzuwenden.

Umso tragischer, dass Deutschland wieder aus ideologischen Motiven in dieselbe Falle tappt.

Das Hauptproblem in Europa für ein Gleichgewicht ist nämlich Deutschland selbst. Dabei muss man nicht gleich auf die Wirtschaft schauen; allein die Bevölkerungszahl, und die potentiell kulturelle Hegemonie durch den deutschen Sprachraum ist eine Kraft, die vielfach unterschätzt und kaum genutzt wird.

Bis 1989 hatten Großbritannien, Italien, Frankreich und Westdeutschland vergleichbare Werte; die Beneluxregion kann als heimliche fünfte Region in der alten EWG gelten. Nicht nur die Wiedervereinigung brachte dieses Konzept ins Wanken, sondern auch die widererstandene Macht Polen. Neben der alten deutsch-französischen Freundschaft sollte es einen zusätzlichen, trilateralen Pakt geben, der als Weimarer Dreieck angedacht war, aber nie über ein loses Gesprächsforum hinauskam.

Der Grund ist simpel: die mögliche Koalition besteht aus einer kleinen, einer mittleren und einer großen Macht. Im Zweifelsfall wäre Polen immer benachteiligt gewesen, wenn sich Deutschland und Frankreich einig waren. Und selbst wenn Polen und Frankreich einig geworden wären, wäre eine Opposition gegen Deutschland wohl nur mäßig ausgefallen.
Obwohl Polen die stärkste Macht des ehemaligen Ostblocks ist, so kann es doch in keiner Weise mit diesen alten EWG-Staaten mithalten.

Es war daher ganz folgerichtig, dass die Polen ab den 2000er Jahren Sinn und Zweck dieser Treffen anzweifelten und die Konferenzen sogar absagten. Hier war eher der Wunsch der Vater des Gedankens – und auch amerikanische Interessen, die über dieses Dreieck auf eine dominante Position eines US-freundlichen Deutschlands hofften, um damit die eigene Kontrolle auf dem Kontinent zu verabsolutieren.***

Gerade deswegen erscheint die Visegrad-Gruppe als weitaus bessere Antwort auf die Probleme Europas. Zwar hat die Tschechoslowakei durch ihre Auflösung die alte Machtstellung innerhalb des Bündnisses eingebüßt, dennoch sind beide Nachfolgerstaaten immer noch so bedeutsam, dass sie mit den anderen mithalten können. Die ehemalige Tschechoslowakei zählte im Ostblock schließlich zu den bestentwickelten Gebieten.

Die Ausgangslage des Visegrad-Bundes erinnert damit stark an ein anderes Konstrukt: nämlich die ursprüngliche Montanunion Westdeutschlands, Frankreichs, Italiens und der kleinen Beneluxstaaten. Drei große Nationen, die sich in der Balance halten (dazu drei kleine, die sich aber eng absprachen). Die Komposition erscheint sehr ähnlich. Und wie damals schon dieses „Kerneuropa“ sich nach Osten und nach Westen autark absetzen wollte, um die eigene Identität zu wahren, indem man einen eigenen Machtraum bildete, erscheint der Visegrad-Bund ähnlich. Selbst eine Gründeridee – bei Adenauer/De Gaulle war es das Frankenreich – ist vorhanden, die als Identifikationsereignis und zur gemeinsamen Sinnstiftung herhalten kann.

Hält man sich nämlich die wirtschaftliche und demographische Kraft eines solch geeinten Gebildes vor Augen, so umfasst „Visegrad“ die Kraft Italiens, Großbritanniens oder Frankreichs – und wäre damit ein ebenbürtiger Block gegen Deutschland oder andere größere EU-Staaten.

Ich wiederhole demnach meine Aussage aus dem letzten Beitrag: was hier passiert, ist sehr nahe an dem, was Adenauer und de Gaulle vorgedacht haben. Ganz im Gegensatz zur Behauptung deutscher Politiker, diese Staaten verrieten das Erbe dieser beiden europäischen Größen.

Die EU, die in ihrer eigenen Unfähigkeit erstarrt ist, ruft nach solchen kleineren, flexibleren Lösungen. Italien, Frankreich und Spanien wären ein weiterer Kandidat für eine Lateinische Union, wie sie immer wieder aufkommt, da die fiskalisch-währungspolitischen Ziele ähnlich liegen – ganz abgesehen von der linguistischen und kulturellen Zusammengehörigkeit. Bei den Beneluxstaaten sind solche Korporationen schon viel länger Gang und Gebe.

Der Verlierer solcher Entwicklungen ist dagegen jetzt schon klar. Es ist eindeutig Deutschland. Denn eine von vielen befürwortete „Nordunion“ mit einem „Nordeuro“ wird es schon deswegen nicht geben, weil Deutschland ein viel zu großes Gewicht ist. Schweden, Österreich, die Niederlande und Dänemark sind wirtschaftlich und bevölkerungstechnisch durchaus vergleichbar. Aber Deutschland? Die anderen Germanen müssten verrückt sein, diesen Elefanten in ihren Clubraum zum Tee einzuladen. Und das nicht nur, weil er in der Vergangenheit bekannt dafür war, Porzellan zu zertreten…

Es wird demnach klar, warum gerade aus Deutschland so stark gegen Visegrad geschossen wird: sollte es zum Erstarken, oder zur Bildung weiterer solcher Machtblöcke in der EU kommen, ist die deutsche Hegemonie endgültig vorbei. Hier geht es nicht nur um Moral, Flüchtlinge oder EU-Gesetze – sondern um knallharte politische Machtinteressen und darum, wer den Kontinent in Zukunft gestaltet.

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*Ein ungarischer Witz besagt, dass genau dies der Grund gewesen sei, warum das Ungarische Reich danach so schnell geschrumpft sei.
**Hier versagen übrigens besonders die liberalen Weltverbesserer, weil sie glauben, nur genügend wirtschaftliche Vernetzung wäre der Weisheit letzter Schluss und würde Kriege komplett ausschließen. Der Fall der Ukraine-Krise hat die Naivität dieses Modells der ganzen Welt vor Augen geführt.
***Einfach mal einen Blick in Brzezinskis Buch „Die einzige Weltmacht“ werfen. Im Umkehrschluss heißt das: jede Störung der deutschen Hegemonie in Europa bedeutet auch eine Schwächung der US-Hegemonie.