Die Ausgangslage
Seit einigen Monaten lese ich immer wieder von diesem Vergleich, dessen sich vor allem die Quantitätsmedien bedienen. Ironischerweise sind das dieselben die zumeist ein Abendland verneinen; hier hingegen scheint man absolute Sicherheit zu haben. Statt aber direkt ein Fazit zu ziehen, reizt es mich, dieses Beispiel durchzuexerzieren – denn als Frühneuzeitler wage ich mir da doch ein kleines Urteil zu erlauben.
Crashkurs: was war der Dreißigjährige Krieg? Im Grunde ein Krieg um die Hegemonialmacht in Europa, zudem ein Machtkampf im Reich, eine Auseinandersetzung zwischen Kaiser und anderen Reichsständen und auch ein Krieg zwischen Konfessionen innerhalb und außerhalb der Reichsgrenzen. An letzterer Stelle wird es spannend, denn im Gedächtnis ist vor allem der konfessionelle Gegensatz im Kopf geblieben, weshalb sich zahlreiche Journalisten eines Vergleichs bedienen. Nach dem Motto: ach, wieder diese Konfessionen und ihre Religionskriege!
Wenn man sich jedoch die gesamte Aufzählung ansieht, ist das ein sehr simplifizierter Schluss. Der Fenstersturz in Prag resultierte zuerst aus machtpolitischen Fragen. Die kaiserlichen Stellvertreter in Prag wurden nicht aus dem Fenster geworfen, weil sie Katholiken waren – sondern weil sie kaiserliche Stellvertreter waren. Es handelte sich um einen böhmischen Aufstand gegen die kaiserliche Gewalt; ähnlich wie bei den Hussitenkriegen vermischten sich hier religiöse und machtpolitische Interessen, aber letztere waren eindeutig entscheidender.
Kurz: den Böhmen missfiel weniger der Umstand, dass der Kaiser katholisch war, als vielmehr die Tatsache, dass der Kaiser den Böhmen Autonomien – darunter auch die Religionsfreiheit – zugesprochen hatte, und diese einkassieren wollte. Ganz ähnlich war auch der Aufstand der Niederländer ein halbes Jahrhundert zuvor eben auch ein Religionskrieg, es ging aber im Grunde um weit mehr: wir würden es heute als nationale Selbstbestimmung oder Selbstbestimmungsrecht der Völker bezeichnen (der Regionalist in mir fügte freilich noch anderes hinzu). Die freie Ausübung ist ein wichtiger Teil davon; aber eben nur ein Teil.
Es sei daher auch darauf verwiesen, dass es vor diesem fulminanten Start 1618 zuvor zwar Spannungen gegeben, aber man bereits 1555 in Augsburg einen modus vivendi gefunden hatte. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts war die lutheranische Frage erledigt: cuius regio, eius religio (wessen Gebiet, dessen Religion). Es war also nicht so, dass Protestanten und Katholiken von jeher feindlich gesinnt waren, sondern es hatte ein friedliches Übereinkommen gegeben, an welches sich zumindest die „55er-Generation“ gehalten hatte. Die Fürsten kannten sich, man verstand sich. Erst die Nachfolgergeneration entwickelte jenen Eifer, der den Ereignissen von 1618 den Weg bereitete.
Einen Dualismus auf Leben und Tod hatte es aber zwischen Katholiken und Protestanten schon deswegen nicht gegeben, weil das Reich zwar ein Flickenteppich war, aber weiterhin ein Teppich. Die ältere Forschung hat das Reich gerne schwächer gemacht als es war, und viele sehen die damaligen Territorien als souverän; das waren sie mitnichten. Der Dreißigjährige Krieg ist auch eine Epoche, in der das Wort „Vaterland“ vermehrt auftaucht. Die „teutsche Nation“ ist eben – im Gegensatz zu heute? – durchaus lebendig. In Flugblättern und Briefen kann man immer wieder nachlesen, dass man den Kampf für die Religion gegen das Reich als Landesverrat sieht. Das Reich ist ein Wert an sich; und der Kaiser wird selbst von Protestanten nicht infrage gestellt. Gerade der Kurfürst von Sachsen, der eigentliche Anführer des protestantischen Reiches, durfte sich vor und nach 1618 immer wieder dem Kaiser unterordnen, weil man prinzipiell die Autorität des Kaisers nicht anzweifelte. Nationalismus wäre das falsche Wort, aber einen „Reichspatriotismus“ gab es durchaus.
Das sind bereits alles Elemente, die mit der sunnitisch-schiitischen Situation wenig zu tun haben. Das beginnt bereits damit, dass der Dreißigjährige Krieg ein Jahrhundert nach Luther und ein halbes Jahrhundert nach dem Augsburger Frieden ausbrach; nach einem halben Jahrhundert hatte diese junge Konfession es geschafft, anerkannt zu werden. Das rückständige Europa mit seiner noch böseren Kirche war also in der Lage gewesen, sich vergleichsweise schnell zu arrangieren. Dass nach einem Jahrhundert dann dennoch ein Konflikt ausbrach, hatte punktuell mit der Machtlage im Reich und noch ungelöster Fragen zu tun, welche Augsburg nicht beantwortet hatte – so etwa bezüglich des Umgangs mit den Reformierten, die von Katholiken wie Lutheranern ausgegrenzt wurden. Die Zeit zwischen 1555 bis 1618 war daher eine schleichende Entwicklung, getrieben von einer Radikalisierung insbesondere einiger weniger Fürsten (den Kaiser und die böhmische Stände inklusive). Prinzipiell hatte man aber schon 1555 gezeigt, dass das Reich zum inneren Frieden fähig war, was sich beim Westfälischen Frieden 1648 erneut – und dann dauerhaft – zeigen sollte.
Der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten dagegen dauert – aus schiitischer Sicht – bereits seit gut 1400 Jahren an. Ein echtes Auskommen, einen echten Ausgleich wie 1555 in Augsburg hat es in diesem über tausend Jahre langen Konflikt nicht gegeben. Auch sind die Schiiten eben keine „neu“ wahrgenommene Religionsgruppe mehr wie die Protestanten, sondern haben sich mit den Sunniten in einem solch blutigen Konflikt festgebissen, sodass ein Zusammenleben nur unter autoritären Staatsformen möglich scheint; nur unter Androhung harter Staatsgewalt können solche Auseinandersetzungen im Keim erstickt werden.
Der Name der Schiiten leitet sich von der Schiat Ali ab, der „Partei Alis“. Ali war der Schwiegersohn des Propheten Mohammed – und nach Deutung der Schiiten der rechtmäßige Nachfolger als Kalif. Die Sunniten dagegen zogen Mohammeds Schwiegervater Abu Bakr vor, der dann auch tatsächlich Kalif wurde. Diese Entscheidung war es, die Sunniten und Schiiten spaltete: also auch hier eine höchst politische Angelegenheit und weniger eine religiöse. Das aber nur auf den ersten Blick: denn im Islam Religion und Staat trennen zu wollen, erscheint schwieriger als im christlichen Reich. Im Reich existierte ein Konflikt zwischen Reichsidentität und konfessioneller Identität; aber zuletzt war es den protestantischen Herrschern möglich, sich unter den katholischen Kaiser unterzuordnen, schlicht, weil es eine Vorstellung von einem Reich, einem Reichstag und einem Kaiser als Oberhaupt gab. Ein Sunnit könnte aber nie unter einem schiitischen Kalifen, und ein Schiit nicht unter einem sunnitischen Kalifen leben – denn gerade diese Zugehörigkeit macht ja die Identität von Sunniten und Schiiten aus!
Dass sich der derzeitige Kalif des Islamischen Staates Abu Bakr nennt, ist daher aus zwei Gründen folgerichtig: einerseits will er das Kalifat wieder aufbauen, dass Abu Bakr gründete. Denn es war Abu Bakr, der die Araber siegreich in die Schlachten gegen Byzanz und die persischen Sassaniden führte, und damit der Expansion des Islams im gesamten Nahen Osten den Weg bereitete. Aber es ist auch eine Adresse an die Schiiten: seht her, Abu Bakr ist zurück, und wird euch Spalter bestrafen!
Der „neue“ Abu Bakr setzt damit einen tausendjährigen Konflikt fort, für den es nie einen Lösungsansatz gegeben hat. Die Schiiten waren über Jahrhunderte eine verfolgte Minderheit, wurden unterdrückt und verfolgt. Sie haben eine lange Geschichte des Martyriums erlitten, angefangen mit Ali selbst, der in Kufa ermordet wurde. Die Gräber der schiitischen Führer liegen zumeist im Irak, und sind seit dem amerikanischen Einmarsch bevorzugtes Ziel der Islamisten. Brutale Verfolgung und Unterdrückung der Schiat Ali gehörte zur Tagesordnung; für die Sunniten waren die Schiiten ein größeres Übel als die Christen oder Juden, weil sie prinzipiell den Herrschaftsanspruch der jeweiligen Kalifen infrage stellten. Sie erschienen als moralisch verkommen, da sie den Koran kannten, aber sich nicht unterordnen wollten.
Der einzige Rückzugsort der Schiiten sollte Persien werden, in dem die Anhänger Alis seit dem Herrschaftsantritt der Safawiden-Dynastie (16. und 17. Jahrhundert) nicht nur die politische Führung, sondern auch die Mehrheit der iranischen Bevölkerung stellen. Die Schahs von Persien waren in der Frühen Neuzeit die ärgsten Rivalen des Osmanischen Sultans; nicht zuletzt, weil die Osmanen sich als Hüter der Heiligen Stätten von Mekka und Medina verstanden, die Schahs von Persien dagegen als Verteidiger Alis. Dieser Dualismus sollte sich erst mit dem Fall des Osmanischen Reiches und dem Beginn der europäischen Kolonialherrschaft ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges legen.
Und er lebt heute im Konflikt zwischen Saudi-Arabien (sunnitische Hüter von Mekka und Medina) und dem Iran (der einzigen schiitischen Großmacht) fort.
Bereits diese kurzen Erläuterungen zur Ausgangslage dürften hinreichen um zu zeigen, mit was für verschiedenen Fällen wir es zu tun haben. Natürlich könnte man sagen: die Böhmen wollten den Kaiser weghaben, und die islamischen Konfessionen wollen sich ihrer jeweiligen andersgläubigen Herrscher entledigen; so einfach ist es aber nicht, da Böhmen nicht unabhängig werden wollte, sondern sich kurz danach einen anderen König wählte, nämlich den Pfalzgrafen – und der war weiterhin nomineller Vasall des Kaisers. An der Integrität des Reiches rüttelte niemand; man stritt sich jedoch um die Kompetenzen und die genaue Verteilung von Macht.
Überhaupt erscheint es schwierig, den Fall vergleichen zu wollen, da es keine dem Reich ähnliche Struktur im Nahen Osten gibt. Die verschiedenen Länder, die derzeit in Anarchie versinken, zeichneten sich vor allem durch ihre Egoismen aus. Es gab eine panarabische Bewegung, aber keinen panarabischen Staat. Im Mittelalter hätte man den Kalifen des vereinten Islamischen Großreiches als Äquivalent nennen können; der Vergleich hinkt aber bereits deswegen, weil der Kaiser kein autoritärer Herrscher war, sondern Oberhaupt von mehr oder minder autonomen Fürsten, die überdies den Kaiser wählten! Der Dreißigjährige Krieg begann als „Aufstand“ gegen den Kaiser – wer aber soll dieser Kaiser im Nahen Osten sein?
Und zuletzt: bereits die Vorgeschichte zwischen Protestanten und Katholiken sowie Schiiten und Sunniten ist deshalb schon schwer vergleichbar, weil es eben nie ein Auskommen, nie ein aufeinander zugehen gab. Einzig in der kurzen Zeitspanne des arabischen Nationalismus und der Säkularisierung gab es dafür Anzeichen; die geschahen aber nicht durch Abkommen, sondern von Staat zu Staat unterschiedlicher Repression jedweder Animositäten.
Dass möglicherweise dieses „Auskommen miteinander“ auch auf die christliche Religion zurückzuführen ist, während unter Muslimen der Kampf um den richtigen Herrscher Gegenstand jedweder Abgrenzung zwischen den Konfessionen war und bleibt, scheint noch keinem Journalisten in den Sinn gekommen zu sein.
Der Verlauf des Dreißigjährigen Krieges und die Interessen der Beteiligten
Bleiben wir kurz beim Reich. Warum war Böhmen so wichtig für den Kaiser? Neben geostrategischen Gründen – Böhmen war ein reiches Land direkt vor der österreichischen Haustüre, und dessen Abfall an einen Feind ein außerordentliches Risiko – spielte vor allem die Reichspolitik eine Rolle. Die Kurfürsten „kürten“, also wählten den Kaiser des Alten Reiches. Eine dieser Kurstimmen gehörte Böhmen. Ein Kaiser musste sich zu Lebzeiten absichern, dass er die Unterstützung der Kurfürsten hatte; einerseits, um die Stabilität des Reiches zu erhalten, andererseits, damit sein Nachfolger ebenfalls Kaiser wurde und die Krone in der Familie blieb. Erst die Kaiserwürde hatte die Habsburger zu einer der wichtigsten Dynastien Europas werden lassen.
Diese war aber nun in doppelter Gefahr, weil Böhmen sich Friedrich V. von der Pfalz zum neuen Herrscher erkor. Nicht nur hatte Friedrich als Pfalzgraf eine eigene Kurstimme und konnte damit eine zweite für sich verbuchen; Sachsen und Brandenburg waren ebenfalls Protestanten und hatten im Kurkollegium jeweils eine Stimme. Bei 7 Kurfürsten stand es demnach langfristig 4:3 für die Protestanten, die es dem katholischen Kaiser hätten schwer machen können.
Ferdinand II. hatte sich noch in Frankfurt zum Kaiser wählen lassen, aber er konnte aufgrund der neuen politischen Gegebenheiten kaum damit rechnen, dass dies immer so blieb. Der Krieg gegen Böhmen und die Pfalz war daher folgerichtig. Dabei prallten die Protestantische Union und die Katholische Liga in einem fünfjährigen Krieg (1618-1623) aufeinander. Dass aber dieser Krieg eher dynastisch-machtpolitisch zu verstehen war, denn religiös, zeigt das Beispiel des protestantischen Sachsens, das auf kaiserlicher Seite kämpfte und bei einem Sieg der Liga die Lausitz zugestanden bekam. Dem wichtigsten katholischen Land nach Österreich – Bayern – wurde zudem die pfälzische Kurwürde im Falle eines Sieges versprochen.
Dieser Böhmisch-Pfälzische Krieg endete in einem Sieg für die kaiserliche Sache. Ferdinand II. hatte damit eine Machtbasis, wie sie möglicherweise kein Vorgänger mehr seit Kaiser Karl V. besessen hatte. Mehr noch: er konnte nun gegen die protestantischen Fürsten effektiver Vorgehen als zuvor, um die zuvor eher partielle kaiserliche Herrschaft in eine weitaus präsentere zu verwandeln. Das locker regierte Reich in der Mitte Europas sollte zentralisierter werden. Schon fürchteten die benachbarten Großmächte, der Kaiser könne bald über Deutschland herrschen wie der englische König über England oder der französische König in Frankreich. Das oberste Prinzip der europäischen Mächte lautete jedoch: Europas Mitte muss schwach bleiben.* Nicht verwunderlich, dass deswegen der katholische (!) König von Frankreich sich mit den protestantischen Reichsständen verbündete, und diese in ein Bündnis mit Dänemark band.
Auch hier sehen wir: die Konfession ist nicht der Auslöser, sondern reines Mittel zum Zweck.
Kurz nach dem Ende des Böhmisch-Pfälzischen Krieges folgte daher der Krieg gegen die norddeutsch-protestantischen Reichsstände und Dänemark. Auch dieser Dänisch-Niedersächsische Krieg (1623-1629) endete mit einem katholisch-kaiserlichen Sieg. Er stärkte Ferdinands Position so massiv, dass er nun das Reich grundlegend reformieren wollte, um es nach dem Vorbild anderer frühneuzeitlicher Staaten fester an seine eigene Person zu binden. Wie schon 1623, erklärte er nun 1629 die protestantischen Fürsten für abgesetzt und setzte ihm genehmere Leute ein – so den fähigen General Wallenstein als Herzog von Mecklenburg. In dieser Zeit katholischer Dominanz erließ Ferdinand das Restitutionsedikt: demnach sollten die Protestanten den Großteil der im Zuge der Reformation beschlagnahmten Kirchengüter verlieren und diese an die geistlichen Herrschaften restituieren. So sollten auch die längst aufgelösten Bistümer – neun an der Zahl, darunter Magdeburg und Bremen – samt Fürstbischof wiederhergestellt werden.
Für manche Fürsten bedeutete dies den Verlust eines Großteils ihres Territoriums, das Vorfahren vor einem guten Jahrhundert eingezogen hatten – verständlich war das Entsetzen in diesen Kreisen. Allein der Herzog von Württemberg wäre durch diese Verordnung der Hälfte seines Herrschaftsgebietes beraubt worden.
Die Machtfülle des Kaisers zeigte sich auch daran, dass Ferdinand dieses Edikt nur erlassen brauchte – es gab keine Konferenzen, keinen Reichstag, keine Kurfürstenberatungen. Mit diesem absolutistischen Anspruch hätte Ferdinand das Reich auf einen Kurs gebracht, wie es später Louis XIV. in Frankreich tun sollte. Einige munkelten gar von einer Abschaffung des kurfürstlichen Wahlrechts und der Durchsetzung einer Erbherrschaft im Reich.
Verständlich, dass die am Boden liegenden Protestanten sich irgendwie wehren wollten – und daher Gustav Adolf von Schweden ins Land riefen, um die „protestantische Sache“ zu verteidigen (die, wie wir sehen, vor allem aus Eigentumsverhältnissen bestand – Max Weber hätte da bestimmt ein Wort mitzureden). Damit sollte eine der fürchterlichsten und katastrophalsten Abschnitte in der Geschichte des 30jährigen Krieges und der gesamten Reichsgeschichte folgen. Von 1630-1635 tobte der Schwedische Krieg, der sich über das gesamte Reichsterritorium ausbreitete. Die gefürchteten Heere Gustav Adolfs und die Revanche der Kaiserlichen haben sich bis heute tief in das Kulturbewusstsein gefressen. Selbst die Protestanten im Reich merkten, dass sie die Geister, die sie gerufen hatten, nicht mehr loswurden – und schlossen sich mit dem Kaiser gegen den gemeinsamen Feind zusammen. Im Gegenzug ließ Ferdinand das Restitutionsedikt aussetzen.
Das wiederum brachte Frankreich auf den Plan, das fürchtete, der Kaiser könne jetzt doch noch die Schweden vertreiben und einen günstigen Frieden schließen. Ab 1635 begann der 13jährige, Französisch-Schwedische Krieg. Hier kämpften nunmehr protestantische Schweden und katholische Franzosen, zusammen mit einigen wenigen protestantischen Reichsständen gegen die Mehrzahl der protestantischen Reichsstände, den Kaiser und die Katholische Liga. Kurz sollte auch Dänemark wieder in den Krieg eintreten – auf kaiserlicher Seite gegen den Glaubensbruder Schweden.
Wer hier einen Religionskrieg sehen will, dem kann ich freilich nicht mehr helfen.
Warum nun dieser grobe Überblick über den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges? Wie schon zuletzt gesagt: ein „Religionskrieg“ ist dies mit Sicherheit nicht, eher ein regionaler Konflikt, der sich zu einem kontinentalen ausweitet, und durch die reichsinternen Machtfragen letztendlich in einem Hegemonialkampf zwischen dem Reich und Frankreich endet. Seit dem Sieg des Kaisers 1623 ist Frankreich das Land, das dem Reich am meisten schaden will.
Der Vergleich zwischen Saudi-Arabien und dem Iran verbietet sich allein schon deswegen. Denn der Kaiser ist ebenso katholisch wie das französische Oberhaupt. Schweden, Dänemark und die protestantischen Stände sind Spielzeuge Frankreichs, um den Rivalen daran zu hindern, die eigene Agenda im Reich durchzusetzen. Ein starkes, geeintes Deutschland wäre der Alptraum für die Franzosen; denn die Habsburger, die den Kaiser stellen, sitzen auch in Spanien auf dem Thron. Frankreich wäre dann von zwei mächtigen Ländern eingekreist. Den Franzosen ist daher jedes Mittel Recht, um die kaiserliche Autorität zu schwächen – schon im 16. Jahrhundert hatten die Franzosen nicht davor zurückgescheut, mit dem Sultan von Konstantinopel ein Bündnis zu schließen, um Kaiser Karl V. in die Knie zu zwingen.
Die Hauptrolle spielt also nicht Papst oder Luther, sondern Machiavelli. Im Nahen Osten ist dagegen recht klar, dass Schiiten und Sunniten nicht kooperieren würden. Selbst nicht im Angesicht eines ausländischen Feindes, wie sich immer wieder zeigt – stattdessen zeigen sich auch hier die Beteiligten als willfährige Instrumente anderer Gruppierungen, wenn man sich als „Feind eines Feindes“ anbietet. Das allein ist die einzige Parallele. Aber ansonsten? Ich sehe keine.
Kehren wir also aus dem 17. Jahrhundert in das Zeitgeschehen zurück. Sehen wir uns mal im Folgenden den Iran, Saudi-Arabien und die Konflikte sowie deren eigentliche Wurzeln genauer an. Denn streng genommen hat der Dreißigjährige Krieg im Herzen Europas begonnen und sich dann ausgebreitet; meiner Ansicht nach ist aber der Konflikt, den wir heute im Nahen Osten sehen, nicht zuletzt erst durch das Ausland in diese Region hineingetragen worden.
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*Ein Prinzip im Übrigen, das die Amerikaner bis heute befolgen, da es das Rezept für jedwede Herrschaft über Europa ist. Man versteht dann auch, weshalb die Deutsche Einigung unter Bismarck ein Kunststück war, und weshalb dieses „Zweite Reich“ von allen Seiten und mit allen Mitteln bekämpft wurde.
Nicht Osten, nicht Westen, sondern der Islam!
Dass der Iran und Saudi-Arabien keiner rein machtpolitischen, sondern auch einer religiösen Agenda folgen, wird daran deutlich, dass der Iran noch in der Mitte des letzten Jahrhunderts ein freundliches Verhältnis zum Erzrivalen pflegte. Dabei sei unterstrichen, dass der Iran im Kalten Kriegen nicht nur moderner, sondern auch toleranter war als Saudi-Arabien: der Iran erkannte den Staat Israel bereits an, lange bevor andere muslimische Staaten nachzogen. Der Schah schickte Briefe an König Faisal, in denen er diesen zur Modernisierung seines Landes aufforderte. Dieser Wechsel ist folgendermaßen als Anekdote überliefert:
Der iranische Schah an König Faisal:
Please, my brother, modernize. Open up your country. Make the schools mixed women and men. Let women wear miniskirts. Have discos. Be modern. Otherwise I cannot guarantee you will stay on your throne.
Der saudische König Faisal an den Schah:
Your majesty, I appreciate your advice. May I remind you, you are not the Shah of France. You are not in the Élysée. You are in Iran. Your population is 90 percent Muslim. Please don’t forget that.
Es war dann auch zuletzt der Schah, der von den radikalen Islamisten um Ayatollah Chomeini 1979 gestürzt wurde, und das bis heute bestehende Mullah-Regime errichtete. Dieser Umsturz ist allerdings symptomatisch für die gesamte muslimische Welt des Nahen und Mittleren Ostens, wo die Säkularisierung und „Verwestlichung“ auf ganzer Linie gescheitert ist. Zu Zeiten des Schahs definierte sich der Iran als moderner Nationalstaat; in dem Moment, da er sich schiitisch-islamisch definierte, war die neuerliche Rivalität mit Saudi-Arabien unumgänglich.
Dazu sei gesagt, dass Saudi-Arabien dagegen nie säkulare-moderne Ansätze hatte. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man denkt, 1979 sei das Fanal für die heutigen Entwicklungen. In Wirklichkeit war das starrköpfigste und islamischste Regime immer dort, wo auch die Heiligen Stätten Mekka und Medina liegen.
Denn tatsächlich fand der Wendepunkt im Iran weitaus früher statt. In den 50er Jahren hatte der Iran eine frei gewählte, demokratische Regierung nach westlichem Standard. Damals gewählter Premier war Mohammad Mossadegh. Der wurde durch eine MI6/CIA-Operation gestürzt, weil der Iraner es gewagt hatte, die eigenen Ölquellen verstaatlichen zu wollen, was nicht im Interesse der angelsächsischen Besitzer war. Stattdessen unterstützten die Amerikaner die Einsetzung des Schahs, bis dieser 1979 gestürzt wurde. Schon dazumal war die Regierung des Schahs höchst umstritten.
Zu Beginn des Kalten Krieges einte alle Staaten des Nahen Ostens eine gewisse Aufbruchsstimmung in „modernere“, nationalere Zeiten. Der ägyptische Präsident Nasser ist ein Paradebeispiel. Statt der islamischen Identität wurde eine „nationale“ beschworen: als Ägypter, als Syrer, als Iraker etc. Die Bewegung des Panarabismus hatte großen Zulauf; es blühte die Idee einer großen arabischen Nation im Nahen Osten. Auch die palästinensische Unabhängigkeitsbewegung begann schließlich nicht als islamistischer Terror, sondern als Befreiungsfront mit nationalistischem Terror.
Dieser „westliche“ Weg hatte deswegen Zulauf als Modell, da man sich durchaus der „Rückständigkeit“ in ökonomischer und politischer Hinsicht bewusst war. Man wollte die Rezepte des Auslands kopieren, um wieder selbst an Bedeutung zu gewinnen; entweder mit amerikanischer oder sowjetischer Hilfe. Die Amerikaner hatten dabei als wichtigste Schachfiguren die Türken, Israelis und Iraner aufgebaut; es war daher folgerichtig, dass die Araber in der Mitte sich mehrheitlich auf sozialistisch-sowjetische Hilfe verließen. So entstand beispielsweise der Assuan-Staudamm mithilfe sowjetischer Ingenieure, und die Baath-Partei Saddam Husseins im Irak und Hafiz al-Assads in Syrien beruhte auf laizistisch-sozialistischen Fundamenten.
Die Nahost-Staaten waren daher Stellvertreter im globalen Kalten Krieg. Doch gerade die Intervention ausländischer Mächte war ein Grund für ihren Untergang. Die Niederlagen gegen das amerikanisch gestützte Israel schürten Selbstzweifel, ob der Nationalismus wirklich das Allheilmittel war. Der Sturz Mossadeghs war nur ein Beispiel, bei welchem die Amerikaner zeigten, dass ihnen nicht Demokratie oder nationale Selbstbestimmung, sondern imperialer Einfluss wichtiger war. Aufgrund der Künstlichkeit der im Nahen Osten entstandenen Staaten lebten verschiedene Konfessionen, Religionen und Ethnien in Vielvölkerstaaten, die nur durch die Armee zusammengehalten wurden.
Die autoritär agierenden Herrscher wussten um die Fragilität ihrer Kunststaaten und bevorzugten insbesondere Minderheiten an der Staatsspitze, um nicht von der Mehrheit gestürzt zu werden. Divide et Impera nach altem Muster, wie es schon die Briten in ihren Kolonien praktiziert hatten. Im mehrheitlich schiitischen Irak waren alle wichtigen Positionen von einer sunnitischen Clique besetzt; Saddam Husseins Vertreter Tarek Aziz war chaldäischer Christ. Im mehrheitlich sunnitischen Syrien herrschten dagegen die alawitischen al-Assads; die Alawiten gelten als schiitische Abspaltung. Auch hier hatten Christen und andere Minderheiten bedeutenden Einfluss.
Umso verständlicher, dass gerade heute diese Minderheiten den Rachegelüsten zum Opfer fallen.
Dass die Staaten aber nun einmal so stehen, wie sie heute stehen, ist auf die britische und französische Mandatszeiten zurückzuführen, als die Kolonialmächte die Grenzen dieser Staaten teils willkürlich zogen. Im Osmanischen Reich hatten diese Territorien gewisse Autonomien besessen; die neuen Herren zogen dagegen ihre Grenzen nach eigenen Interessen. Einzig im Libanon versuchten die Franzosen, einen mehrheitlich christlichen Staat zu schaffen, was allerdings aufgrund dessen fragmentarischer Zusammensetzung aus maronitischen, orthodoxen und katholischen Christen, sowie Sunniten, Schiiten und Drusen von Anfang an ein Hasardeurstück war. Der Libanon war daher mit seinem fürchterlichen Bürgerkrieg, der die ehemalige „Schweiz des Orients“ zum Armenhaus machte, das Vorspiel des heutigen Großkonflikts. Es ist mal wieder bezeichnend, dass diese – ebenfalls von außen durch Syrien, Israel und Palästinenser – hereingetragene Katastrophe als Vorbote völlig ausgeklammert wird.
Im echten Dreißigjährigen Krieg gab es interkonfessionelle, aber keinerlei interreligiösen Auseinandersetzungen; ethnische Konflikte, die das heutige Chaos im Morgenland bestimmen, sowie Kriege zwischen Clans und ethnischen Minderheiten sind diesem Krieg des 17. Jahrhundert völlig unbekannt. Gerade an diesem entscheidenden Punkt hinkt der Vergleich wieder ungemein. Das Motto, das im Reich das konfessionelle Gefüge prägte – cuius regio, eius religio – ist hier oft umgekehrt. Noch heute herrscht in Bahrein eine sunnitische Familie über eine mehrheitlich schiitische Bevölkerung.
Die oben erwähnte Einmischung der Amerikaner und der SU in interne Angelegenheiten, der Misserfolg der panarabischen Bewegung, die Niederlagen gegen Israel und die Präsenz von US-Truppen im Land der Heiligen Stätten führte zu einem allgemeinen Ohnmachtsgefühl – nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei den Eliten. Bald schon bereute man die eigene Selbstaufgabe. Weder Osten noch Westen schienen die Antwort zu haben. Unter diesem Eindruck verstärkten sich radikale islamische Strömungen, insbesondere im Herzland des Islam. In Saudi-Arabien hatte sich bereits im 18. Jahrhundert die Wahhabiten gebildet, eine radikale Spielart der Sunna. Seit der Gründung der saudischen Herrschaft standen sie dem Königshaus sehr nahe und fanden reichhaltige Unterstützung.
Die Wahhabiten selbst bezeichnen sich nur als Sunniten – oder als Salafisten.
Dieser neue Islamismus wurde an den Universitäten und Koranschulen vorbereitet und fand bald neue Anhänger. Ziele waren (und sind) die Wiederaufrichtung eines islamischen Großreichs nach Vorbild der ersten Kalifen; man kann dies auch als Antwort auf den gescheiterten Panarabismus und die ausländische Vormundschaft verstehen. Zum ersten Mal kamen diese neuen Gotteskrieger in Afghanistan zum Einsatz, wo sie den sowjetischen Einmarsch in den 80er Jahren aufhalten sollten – mit finanzieller Unterstützung der amerikanischen CIA.
Dass die Islamisten bereits damals nicht nur „Tod der Sowjetunion“, sondern auch „Tod Amerika!“ riefen, ignorierte man damals noch.
Weit mehr als das Ayatollah-Regime in Teheran kann diese salafistische Re-Islamisierung der muslimischen Welt als Reaktion auf die ausländische Intervention und Dominanz, sowie als Initialzündung jenes Konfliktes verstanden werden, der heute immer greifbarer und offensichtlicher wird. Denn der Iran hat – trotz aller Medienpropaganda – seit 40 Jahren keinerlei Anzeichen zur Welteroberung oder zur Israelvernichtung gezeigt, von ein paar lauten Brüllereien und viel Geschwätz abgesehen. Dafür fehlt dem schiitischen Paria in einer mehrheitlich sunnitischen Welt auch einfach der Rückhalt. 90% der Muslime sind Sunniten.
Die radikalen Islamisten dagegen, die seit den 80ern die Koranschulen und Universitäten infiltriert haben, und die junge Generation für sich gewinnen, deren Großväter noch im nationalen Begeisterungssturm die „Modernisierung“ begrüßt hatten – gewannen im Laufe der letzten 30 Jahren nicht nur einen bedeutenden physischen Zulauf, sondern auch bald eine „kulturelle Hegemonie“, wie es der Marxist Gramsci beschrieben hätte.
Raum für diese gewalttätige Expansion gaben wieder einmal ausländische Eingriffe. Am bedeutendsten war der amerikanische Angriffskrieg im Irak 2003, der ein fragiles Staatsgefüge in Chaos und Bürgerkrieg stieß. Die ersten, die danach für Probleme sorgten, waren nicht etwa die schiitischen Ayatollahs und die ihnen zugehörige Bevölkerungsmehrheit, sondern die sunnitische Minderheit, die um ihren Status im neuen Irak fürchtete. Die Attentate gingen zumeist von Sunniten aus und waren gegen Schiiten und Christen gerichtet. Das chaotische Zweistromland wurde bald zum perfekten Trainingslager für die Islamisten, die durch den Einmarsch der Amerikaner im Irak und Afghanistan ihre Ideologie mehr denn je bestätigt sahen. Dass hier der national-säkulare Irak Saddam Husseins von islamistischen Fundamentalisten beerbt wurde, kann symbolisch für den Wechsel der Ideologien im Orient stehen. Ähnliches wiederholte sich in Libyen, wo Engländer, Franzosen und Amerikaner erneut eingriffen. Und in Syrien, wo die Amerikaner ganz offen islamistische Gruppen unterstützten, wie sie es schon in den 80ern in Afghanistan taten.
Bleibt nur die Frage: was hat das alles mit dem Dreißigjährigen Krieg zu tun?
So gut wie nichts. Es ist überhaupt nicht vergleichbar. Der Dreißigjährige Krieg kannte keine ethnischen Konflikte; er kannte auch keine fragilen Kunststaaten, deren Bruch zu offenem Chaos führte; ihm waren Umstürze durch Geheimoperationen unbekannt; und er besaß keine Konfession radikaler Terroristen, die das Gemeinwesen und die europäische Außenpolitik vor offene Fragen stellte. Keine Parallelen, nirgends.
Außer, wir setzen Amerika mit dem frühneuzeitlichen Frankreich gleich, das seinen Nachbarn nicht in Frieden leben lassen wollte, weil es um eigene Machtvorteile fürchtete. Oder wir verweisen darauf, wie Frankreich Dänemark gegen das Reich anstachelte, ähnlich wie es die Amerikaner mit ihren Spielfiguren taten. Oder wir verweisen auf einen direkten Einmarsch ohne Kriegsgrund wie bei Frankreichs Invasion im Jahr 1635 und Amerikas Angriffskrieg im Jahr 2003.
Allerdings ist ja nun imperialistisch-machiavellistische Politik nichts, was nur den Dreißigjährigen Krieg auszeichnen würde.
Iran, Saudi-Arabien und die eigentliche Lage in Nahost
Werfen wir daher nochmals einen Blick auf die eindeutigen Protagonisten mit ihren klaren und eindeutig zuweisbaren Lagern; denn im Gegensatz zu den manchmal sich widersprechenden Koalitionen des Dreißigjährigen Krieges sind die Verbündeten und Rivalen weitaus besser zu differenzieren, als uns die Medien weismachen wollen.
Da stände auf der einen Seite der Iran, der durch die Islamische Revolution von 1979 kein Stellvertreter amerikanischer Interessen ist, sondern seine eigene Machtpolitik zu betreiben versucht. Die Amerikaner hatten in den 80ern daher die Allianzen gewechselt und den Iran mit dem irakischen Nachbarn in einen der blutigsten Konflikte des Kalten Krieges verwickelt. Ein ganzes Jahrzehnt lang hielt dieser 1. Golfkrieg Iran und Irak beschäftigt. In den 90ern musste der Iran sich von dieser Auseinandersetzung erst erholen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Iran als aktive politische Regionalmacht erst seit der Jahrtausendwende wieder ins Rampenlicht tritt.
Die außenpolitische Lage kam der Regierung in Teheran dabei deswegen entgegen, weil die USA als Hegemon eine geradezu irrational-desaströse Politik betrieben. Der Einmarsch in den Irak bot den Ayatollahs die Möglichkeit, endlich wieder Kontakte zu den ihnen befreundeten Geistlichen im Geburtsland der Schiat Ali aufzunehmen. 60% der Iraker sind Schiiten. Eine schiitische Regierung war daher im Nachbarland, mit dem man eine Generation zuvor noch erbittert kämpfte, eine logische Folge. Statt dass der Iran durch amerikanische Basen in Afghanistan und Irak durch die USA eingekreist wurde, konnten die Iraner zum ersten Mal seit Jahrhunderten ihre Westfront absichern. Dass auch Afghanistan derzeit im Chaos versinkt, braucht an dieser Stelle kaum ausgeführt zu werden.
Ein weiterer Fehlschlag war die Intervention des US-Verbündeten Israel im Libanon 2006. Dort verbuchte die schiitische Hisbollah-Miliz solche Erfolge gegen die israelischen Invasoren, dass selbst einige sunnitische Gruppierungen deren Einsatz lobten. Da die Schiiten als Minderheit in der islamischen Welt zusammenhalten, war ein inoffizielles Bündnis zwischen der Levante und dem persischen Hochland nur eine Frage der Zeit. Ähnlich unterstützt Teheran die Huthi-Rebellen im Jemen; die dortigen Zaiditen sind eine Abspaltung der Schiiten, ähnlich wie es die Alawiten in Syrien sind, zu denen der Verbündete Baschar al-Assad zählt. Kurz: in den letzten 15 Jahren gewann die schiitische Sache mit dem Machtzentrum Iran bedeutend an Fahrt.
Führt man sich eine Karte vor Augen, so erkennt man leicht, dass es sich dabei um eine Brücke vom persischen Golf zum Mittelmeer handelt, ergänzt durch einen Brückenkopf im Jemen. Damit ist auch klar, dass diese ganze Politik sich nicht etwa (in erster Linie) gegen Israel oder die USA richtet, sondern gegen das dadurch eingekreiste Saudi-Arabien. Im selben Zusammenhang dürfte auch das iranische Atombombenprojekt weniger einem Angriffskrieg gegen Israel gelten, sondern als Abwehrschutz gegen einen möglichen amerikanisch-israelischen Erstschlag dienen und vor allem um seinen Großmachtstatus gegenüber dem saudischen Rivalen zu gewährleisten. Auch die Aufstände im mehrheitlich schiitischen, aber sunnitisch regierten Bahrein dürften von Teheran initiiert worden sein; Bahrein gehört zu den mit den USA und Saudi-Arabien verbündeten Golfstaaten.
In dieser Hinsicht übernimmt der Iran eine Rolle als „Verteidiger des Glaubens“. Allerdings auch deswegen, weil der Iran ansonsten keine Verbündeten in seiner Nähe aufbauen kann. Um seine Machtposition auszubauen ist das Land schlichtweg darauf angewiesen, dass schiitische Regierungen an die Macht kommen. Der nächste Verbündete ist Russland und – was weit weniger bekannt ist – Armenien. Ebenso wenig bekannt: der Iran gilt als potentieller Kandidat des von Russland geführten Militärbündnisses CSTO. Die iranische Armee ist vor allem mit sowjetisch-russischem Gerät ausgestattet.
Irans Öl- und Gasreichtum macht das Land zudem als strategischen Partner für China interessant. Die Chinesen zeigen dabei ihre Interessen im Nahen Osten weit weniger offen als die Russen und Amerikaner – wobei das der chinesischen Mentalität entspricht, seine Gegner eher im Ungewissen zu lassen. Es wäre wohl an dieser Stelle auch nicht ganz unwichtig zu erwähnen, dass Russland, China und Iran/Persien jeweils Staaten mit einer langen Geschichte sind, und allesamt Erben von Großreichen, die zu einem gewissen Zeitpunkt die ganze Welt in Atem hielten. Es handelt sich daher mit Sicherheit nicht um eine Vereinigung von „have nots“.
Saudi-Arabien hat aufgrund dieser Entwicklungen, die von amerikanischen Interventionen losgetreten wurden, die deutlich schlechtere Karte gezogen. Für die Hüter der Heiligen Stätten, die damit die Führung in der sunnitischen Welt beanspruchen, muss es einer Katastrophe gleichkommen, dass die Länder des Nahen Ostens immer mehr in den Orbit der schiitischen Schutzmacht fielen – und eines der wichtigsten Länder, nämlich der Irak, der vorher sunnitisch regiert wurde, nunmehr in schiitischer Hand ist; ähnlich verhält es sich mit dem sunnitischen Syrien in alawitischer Hand. Die schiitische Intervention im saudischen Vorgarten Jemen ist Provokation und Kampfansage zugleich: denn wenn die Schiiten hier siegen, ist dies nicht nur eine Niederlage für die gesamte sunnitische Welt, sondern bedeutet auch geostrategische Probleme für die Saudis.
Es ist bezeichnend, dass Saudi-Arabien seit letztem Jahr einen Angriffskrieg im Jemen führt, und das unter den Augen der gesamten Welt – ohne dass dies irgendwen zu kümmern scheint.
Letzteres ist nicht zuletzt deswegen der Fall, weil der amerikanische Verbündete trotz besseren Wissens immer noch die schützende Hand über seine treuen saudischen „Freunde“ hält. Ich betone: der saudische Verbündete, der die radikalen Islamisten unterstützt, finanziert und auch in Syrien angeheuert hat, um die schiitisch-alawitischen al-Assads zu stürzen. Der Islamische Staat ist zuletzt eine Chimäre, die sich aus den Ungeheuern amerikanischer und saudischer Geheimdienste gebildet hat (ähnlich wie auch Al-Quaida dazumal in Afghanistan; Geschichte wiederholt sich ja bekanntlich nicht!). Der IS ist die Vollendung jener radikalislamischen, wahhabitisch-islamistischen Ideologie, die an den saudischen Schulen der 80er ihren Ausgang nahm.
Dabei sitzen die Saudis selbst in der Zwickmühle, was ihre eigene Weltanschauung angeht. Denn der Aufstieg des Hauses al-Saud hängt eng mit der Förderung der Wahhabiten zusammen, die ihre Herrschaft legitimierten. Allerdings verstehen sich die salafistische Lehre und der Lebensstil der Könige von Arabien kaum. Die Wahhabiten wollen die reine, klare Lehre des „ursprünglichen“ Islam, sind also Puritaner im besten Sinne, während die herrschenden Prinzen im barocken Luxus und Sinneslust schwelgen. Die Öleinnahmen dienen daher nicht nur dazu, um den vielen Familienangehörigen ein schönes Leben zu versüßen, sondern auch, um mithilfe eines gut ausgebauten Sozialsystems die unruhige Bevölkerung zu anästhesieren. Da dies aber in den Augen der Radikalen nicht genug ist, finanziert Saudi-Arabien bereits seit Jahrzehnten jene Art von Terrorismus, dessen größter Coup die Zerstörung des WTC in New York war. Unter den Attentätern waren fast ausschließlich Männer mit saudi-arabischer Staatsangehörigkeit – aber kein einziger Afghane.
Vermutlich fährt man diese Strategie nicht zuletzt, um sich von Anschlägen freizukaufen. Denn unter den Puristen unter den Puritanern gelten auch die Saudis als dekadent. Dies mag sich widersprechen; es erinnert aber ebenso an die Al-Quaida-Soldaten in Afghanistan, die, von den USA unterstützt, den Tod Amerikas ersehnten.
Die Fronten sind also im Nahen Osten ganz klar verteilt:
Zum einen das schiitische Lager, das vom Iran angeführt wird, und das die alawitische Regierung Syriens sowie die schiitische Regierung im Irak unterstützt; dazu die schiitischen Minderheiten der Huthis im Jemen und die Hisbollah im Libanon; zuletzt die schiitischen Minderheiten in der Golfregion und Arabien selbst, wobei hier besonders Bahrein herausgehoben werden sollte.
Im Hintergrund stehen die Russen und – vermutlich mit Abstrichen – die Chinesen, und damit zwei der drei Weltmächte.
Zum anderen das sunnitische Lager, das von Saudi-Arabien angeführt wird, und die Regierungen in den Golfstaaten und im Jemen unterstützt; dazu die sunnitische Minderheit im Irak und die sunnitische Mehrheit in Syrien, wobei der IS hier mit Fug und Recht als deren mächtigster Vertreter angesehen werden kann. Ähnliches gilt für Abspaltungen des Gottesstaates in anderen Ländern.
Im Hintergrund stehen die USA als Weltmacht auf globalem Parkett. Das sind die machiavellistischen Fakten.
Weitaus spannender wird es, wenn wir uns Regionen ansehen, wo der Kontrast Sunniten-Schiiten eine geringere Rolle spielt. So beispielsweise in Libyen, das nach dem Sturz Gaddafis zum Spielball der dort agierenden Stämme geworden ist, und wo der IS ebenso Fuß fasst. Noch interessanter liegt es beim Fall der Türkei: die Osmanen waren einst die beherrschende Macht des Nahen Ostens. Obwohl sunnitisch, zieht Erdogan seine eigene Strategie durch, kommt dabei aber saudischen Interessen nicht offen in die Quere. Dass die Türkei den IS unterstützt, bewiesen französische Journalisten bereits vor zwei Jahren – denn Erdogan will Syrien ebenfalls unter seine Kontrolle bringen und die dortigen Turkmenen als fünfte Kolonne einrichten. Den Saudis könnte dies gelegen kommen und lassen die Türken gewähren.
Über die Türkei und Syrien kommen wir zu einem weiteren Konflikt, der eine Rolle spielt, aber von keinen Konfessionen gekennzeichnet wird. Die Kurden sind Sunniten wie die Türken, die Saudis und die Angehörigen des IS. Dennoch werden sie an zwei Fronten in die Mangel genommen. Mit konfessionellen Erklärungen kommt man hier nicht weit – vor allem, weil die Kurden als säkular-laizistisch gelten, was nicht zuletzt mit ihrer sozialistischen Prägung zusammenhängt. Einst waren die Sowjets ihre Verbündeten, um sie als Gegner zum NATO-Mitglied Türkei zu gewinnen. Die zweifelhafte Rolle der USA in dieser Region wird auch daran deutlich, dass sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das sie ostentativ wie eine Monstranz vor sich herhalten, komplett vergessen, wenn es um dieses Volk geht, das seit Jahrhunderten um seine Unabhängigkeit kämpft, und dabei von Schiiten wie Sunniten, Türken wie Arabern stets eingehegt und unterdrückt wurde. Dabei waren es in den Kriegen gegen den IS gerade die Kurden, die sich am besten bewährten, und als einzige nicht von religiösen Gefühlen getrieben werden.
Schauen wir demnach auf die aktuelle Situation, sehen wir eine Melange aus vielen grundsätzlich verschiedenen Interessen; ethnischen und religiösen Konflikten; sowie Hegemonialpolitik auf lokaler, regionaler und weltweiter Ebene. Zudem wird offenbar, wie stark das Ausland in diesen Konflikt verstrickt ist. Der Krieg im Nahen Osten ist im Großen Maße von den Grenzziehungen der Europäer, dem Kalten Krieg, sowie den amerikanischen Interventionen ab dem Kuweit-Krieg beeinflusst. So zu tun, als handelte es sich „nur“ um einen religiösen Konflikt – denn in der Gesamtbetrachtung ist das Problem nicht nur facettenreicher, sondern auch noch weitaus verzwickter und damit: blutiger und grausamer – versperrt den Blick auf das Gesamtbild.
Einzig darin zeigen sich Gemeinsamkeiten mit dem Dreißigjährigen Krieg: die Lage ist weitaus schwieriger und komplexer, als ein reines Schlagwort es ausdrücken kann.
Die Hoffnung des westlich-linksliberalen Milieus
Wieso taucht dann dennoch immer wieder diese Begrifflichkeit in den Medien auf, obwohl bei genauer Betrachtung nur sehr wenig übrig bleibt, was man vergleichen kann? Es bieten sich mehrere Erklärungsmöglichkeiten an.
Die Offensichtlichste: die Geschichtsvergessenheit der Journalisten, die sich nur rudimentär mit dem Dreißigjährigen Krieg auskennen, und an einen Religionskonflikt glauben. In diesem Sinne ist es ja paradoxerweise so, dass sich die Konflikte darin ähneln, dass sie nicht (nur) religiös, sondern (auch) machtpolitisch geprägt waren. Allerdings mit Abstrichen.
Die Hinterhältigste: Journalisten versuchen das Bild einer aus den Fugen geratenen, überreligiös gewordenen islamischen Umma zu zeichnen, die nun die ganze Welt in ihren Strudel zieht; obwohl bei näheren Betrachtung es die Welt war, die sich in den Nahen Osten einmischte, und diese Reaktion (!) erst provozierte. Es ist doch etwas merkwürdig, dass immer wieder Interventionen gefordert werden, immer wieder von Verantwortung die Rede ist, obwohl sich insbesondere die USA seit dem Sturz Mossadeghs andauernd im Nahen Osten einmischen und erst für die jetzige Entwicklung verantwortlich sind. Wäre die national-arabisch-säkulare Idee nicht gescheitert, hätte es keinen Nährboden für radikalislamische Ideen gegeben. Es sind aber nunmehr dieselben USA, die auch den Sturz al-Assads fordern, obwohl der Sturz Mossadeghs, Husseins, Mubaraks und Gaddafis erst die Region in jene Lage gebracht hat, in der sie heute steckt.
Die Ideologische: das linksliberal-westliche Weltbild der Journalisten, das sie für jedweden klaren Blick auf die Lage völlig blind macht. „Linksliberal“ nutze ich deswegen als Begriff, weil es sowohl ehemals linke (auch marxistisch getrimmte) Gesinnungstäter trifft wie selbsternannte Liberaldemokraten. Ich will hier genau erklären, warum ich diese Begriffe verwende: denn Liberale und Linke glauben, dass es eine Art Fortschritt, eine Entwicklung, einen Prozess in der Geschichte gibt. Beiden Weltbildern ist inhärent, dass es einen Weg zu einer „Erlösung“ gibt: bei den Linken ist dies der Sozialismus/Kommunismus der am Ende einer Folge von Revolutionen steht, bei den Liberalen ist es der demokratische Weltstaat.
Kurz: beide Gruppierungen glauben an ein irgendwie geartetes Ende der Geschichte, wie es Fukuyama postuliert.
Ich kann mich noch in meinem eigenen Politikstudium lebhaft daran erinnern, wie nahezu jeder davon überzeugt war, dass am Ende alle Länder sich zu Demokratien nach westlichem Vorbild wandeln würden; ähnlich wie die knallharten Marxisten des Ostblocks, die an den Endsieg des Kommunismus glaubten, behauptete einer meiner Dozenten, auch China werde eines Tages nicht anders als Europa oder die USA regiert werden.
Unsere gesamte Elite ist von solchen im Grunde intoleranten „Westen“-Jüngern durchsetzt, wie ich sie schon im Winkler-Beitrag beschrieb. Es ist eine hochgefährliche Idee, weil sie an die grundsätzliche Überlegenheit der westlichen Ideale festhält und glaubt, sie würde auch in der hinterletzten Ecke gelten. Insofern liest man auch immer wieder, dass die „Religion“ das Problem sei. Denn für eben jene Gläubigen an die ewige Demokratie ist die Aufklärung der Schlüssel zur endgültigen Menschenseligkeit.
Der Glaube an die Aufklärung ist aber deswegen Gift, weil man völlig übersieht, dass es Aufklärung nur da gab, wo vorher das Christentum existierte. Andere Länder kopierten den Westen, aber es war nur eine falsche Patina. Im Grunde wussten auch die Araber, dass sie Selbstverrat am „Eigenen“ übten. Deswegen hatte die Re-Islamisierung den Erfolg, den sie heute hat.
Viele Vertreter unserer Elite aber wollen das immer noch nicht einsehen. Nachdem die Arabellion gescheitert ist, von der man naiverweise dachte, sie hätte dieselbe Wirkung wie die 1989er Revolution, braucht man einen nächsten Strohhalm, um sich daran festzuhalten. Diese Hoffnung ist ein Dreißigjähriger Krieg; nicht des Krieges wegen, sondern weil die Linksliberalen in ihrem falschen Geschichtsverständnis tatsächlich im Innersten hoffen, darauf würde ein Westfälischer Frieden folgen. Das ist vermutlich die Crux in der Medien- und Politiklandschaft: die tiefe Sehnsucht nach einem Erlösungserlebnis, das die eigenen Ideale bestätigt, an die man glaubt.
Was man dabei übersieht, ist, dass es keinerlei Anknüpfungspunkte an den Frieden von 1648 gibt, weil die res publica christiana des Mittelalters und der Frühen Neuzeit komplett anders funktionierte; weil auch keine dem 1555er Augsburger Frieden entsprechende Vereinbarungen zwischen Sunniten und Schiiten in über 1000 Jahren existieren; und zuletzt fehlt irgendeine Form des Reichsverbandes, des gemeinsamen Oberhauptes und der gemeinsamen Reichsidentität, wie sie das frühneuzeitliche Deutschland kannte.
Für Aufklärer, Vernunftjünger und Liberalmarxisten geht die Geschichten immer nur in eine Richtung. Für sie leben die Muslime „im Mittelalter“; sie müssen „unsere Erfahrungen“ machen; wenn sie erst mal einen Religionskrieg hinter sich haben, machen sie zuerst einen Westfälischen Frieden, dann kommt die Aufklärung, anschließend die Französische Revolution, und irgendwann sind sie „wie wir“.
Dass die Staaten des Nahen Ostens nicht etwa noch in die Moderne aufbrechen müssen, sondern sie mit Nasser und Mossadegh bereits hinter sich haben, spielt keine Rolle. Der Orient lebt im wahrsten Sinne in der Postmoderne; er hat die Moderne abgestreift und ist in ein neues Zeitalter aufgebrochen, in dem er sich einer Reformation verschrieb, die aber so gar nicht im Sinne des Westens verlief. Denn Reformation bedeutet im Grunde „Zurückformen“, heißt, zu den Ursprüngen zurückgehen und es wieder in die richtige Richtung bringen. Auch Luther wollte nichts Neues, er wollte wieder die alte Kirche, wie sie zu Zeiten Christi war – also das komplette Gegenteil dessen, was wir heute unter politischen Reformen verstehen!
Es entbehrt nicht der Ironie, dass die größten Reformer unter den Muslimen die Salafisten sind, die den harten, reinen Islam Mohammeds wollen. Ich bezweifle aber, dass dies im Sinne der linksliberalen Journalistenjünger ist, die in der Aufklärung das Allheilmittel sehen; und Luther täte das genauso Unrecht wie dem Dreißigjährigen Krieg.