Schließen sich Höflichkeit und Internet einander aus?

Kavalier

Es ist immer wieder und seit einigen Monaten häufiger zu lesen. Ich werde hier jetzt keine Linksammlung anheften, denn jeder wird es – insbesondere aus dem Munde der analogen, einstmals führenden Quantitätsmedien – vernommen haben: die Verrohung des Diskurses, insbesondere des gesellschaftlich-politischen, sei auch dem Siegeszug des Internets zu verdanken. Der Wegfall von Klarnamen, der Schutz der Identität, „Shitstorms“ und was da alles an Argumenten fällt.

Ich möchte dieser Deutung widersprechen.

Im Gegensatz zu den vielen selbsternannten Experten und auch Medienschaffenden, die erst über Twitter und Facebook in die Weiten des Internets vorstießen, bin ich schon ein paar Jährchen länger in dieser Parallelwelt mit all ihren Abgründen und all ihren Möglichkeiten unterwegs. Ansatzweise seit 1999, verstärkt und richtig vernetzt ab 2003. Und das noch zu 56k-Modem-Zeiten. In die Genüsse von DSL kam ich erst 2006.

Mein Eindruck ist vielmehr, dass diejenigen, die bereits vor dem Web 2.0 unterwegs waren, dazumal eine eher kleine, aber gut organisierte Avantgarde darstellten. Der Meinungsaustausch fand vornehmlich per Email, Chat oder Diskussionsforen statt. YouTube erschien als interessantes Kuriosum, dessen Auswüchse man nicht absehen konnte. Jeder brauchte plötzlich so ca. ab 2005 ein Blog. WhatsApp gab es nicht, das Instant Messenger Programm hieß ICQ, Trillian oder AOL-Telegramm (AIM).

Und dennoch existierten einige sehr spezifische Unterschiede. Gefühlt änderte sich die Netzkultur radikal etwa ab 2007/2008 durch das Aufkommen der klassischen sozialen Netzwerke – allen voran Facebook, in Deutschland zuvor aber StudiVZ.

Zuerst muss man begreifen, dass – wenn man nicht gerade im größten Abschaum unterwegs war – die Diskussionsforen spezifische Themen hatten. Die ansässigen Mitglieder waren meistens „Experten“ auf ihrem Gebiet, ob es nun um Bücher, Spiele, Filme, Rollenspiele oder anderes ging. Es gab natürlich auch politische Foren, aber dort war das Publikum kaum repräsentativ, da sich im Internet eben nicht der Bevölkerungsdurchschnitt tummelte, sondern meist eher etwas spezielle Personalien. Im Guten wie im Schlechten.

Es ist dabei bemerkenswert, dass auch dazumal ein oftmals sehr direkter, ehrlicher Austausch stattfand – Respektlosigkeiten waren schon damals Teil der Internetkultur. Nur, sie verhielt sich anders. „Trollen“ zeichnete sich durch ein gewisses Maß an Intelligenz aus. Um Leute wirklich zu verärgern, brauchte es eben mehr als einen Verweis mit vielen Ausrufezeichen und irgendeinem blöden Youtube-Video. Insbesondere seriöse Diskussionen waren dafür anfällig. Das aber machte nicht selten auch den Reiz aus.

Obwohl der Ton politisch unkorrekt, manchmal auch hart an der Ehrverletzung sein konnte – es existierte ein Grundrespekt vor den Personen. Das hatte eine bestimmte Bewandtnis: in Foren schreibt man lange, viel und über einen längeren Zeitraum mit denselben Leuten. Foren funktionieren wie Schulhöfe: man prügelt sich, aber über lange Sicht muss man einander aushalten, weil man jahrelang zusammenhängt. Es sei dabei natürlich auch angemerkt, dass schon damals der Männeranteil erstickend hoch war, weit höher noch als heute. Insofern galten auch „männliche“ Regeln: wir schlagen uns, aber Ehrverletzung, das geht nicht.

Was ich damit meine: trotz allem waren die Leute fähig, in verständlichen Worten zu schreiben. Sätze beinhalteten mehr als zehn Worte. Auf Rechtschreibung und Grammatik wurde Wert gelegt. Das Schriftbild war lesbar. Man pöbelte nicht, sondern legte auf Spitzen, auf Subtilität, oder zumindest Kreativität wert, wenn man sich schon mit jemanden anlegte. Und vor allem: wer eine niveauvolle Tirade schreibt, der kommt auch um Argumente nicht herum, weil letztendlich Argumente auch die umstehende Forengemeinschaft eher überzeugen. Der Vorteil der Forenkultur bestand daraus, dass die Gemeinschaft groß genug war, um eine bedeutende Anzahl von Leuten zusammenzubekommen, aber immer noch klein genug, damit jeder jeden kannte, und trotz der Namensanonymität keine Unbekanntheit zwischen den Mitgliedern herrschte. Paradoxerweise entstanden dadurch Gruppengefühle, trotz möglicher Animositäten.

Um wirklich ausfallend und beleidigend zu werden, braucht es aber Anarchie, bzw. das überbewertete Individuum, das sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Foren bildeten Gegengewichte, weil die etablierte Gemeinschaft sich über solche Narzissten lustig machte. Es gab also auch ein Regulativ gegen „Pöbler“, und zwar kein administratives-moderatives, sondern ein soziales.

Noch etwas zur Form. Lange Texte waren normal. Man schrieb briefähnliche Emails. Man textete in Foren lange Beschreibungen. Youtube steckte in den Kinderschuhen, selbst Wikipedia war mit Commons noch im Aufbau, die meisten Bilder waren einfach nicht hochgeladen. Weil man einen Sketch von Monty Python nicht verlinken konnte, musste man ihn beschreiben. Ohne Googlebooks konnte man nicht zu Büchern verlinken, sondern musste sie zusammenfassen. Wenn jemand ein Konzept nicht verstand, musste man es erklären, statt auf Wikipedia zu verlinken. So simpel ist die Wahrheit.

Kurz: Das Internet war eine Schreibmaschine. Was ich nicht schreiben, bzw. beschreiben kann, ist zuerst einmal nicht existent. Das Internet nötigte einem mehr Hirnschmalz ab als heute, wo wir auf alles gemütlich verlinken können. Und man nahm sich Zeit; man antwortete Leuten ausführlich, man versuchte auf lange Texte gleichermaßen lang zu antworten. Es existierten Foren oder Forenbereiche, in denen Einzeiler verboten waren. Wie im realen Leben war die Neigung größer, auf den Gegenüber einzugehen.

Heute dagegen dominiert ein Nachrichtendienst das Netzwerk, bei dem man alles in 140 Zeichen zusammenfassen soll. Und das bei einem Service, der für die kompakt-angelsächsische, und nicht die verschachtelt-germanische Sprache ausgelegt wurde. Zu viel schreiben ist out. Je weniger, desto besser.

Insofern ist weniger das Internet als solches, als vielmehr die Entwicklung ab 2007 (für Europa) als Zäsur anzusehen. Denn es geschah eine „Facebookisierung“ des Internets.

Dabei spielen mehrere Aspekte eine Rolle. Zuerst einmal war Facebook nun eine gewaltige Sammelstelle für alle möglichen Themen. Weil auch Unternehmen das erkannten, verlagerte bald jeder seinen Diskussionsschwerpunkt auf Facebook, weil „alle auf Facebook“ waren. Der Teufelskreis ging damit erst richtig los: die traditionelle Forenkultur starb aus, weil immer weniger Leute dort und stattdessen bei Facebook waren; schließlich hatte man alles und jeden auf Facebook. Spiele wurden jetzt nicht in einem Spieleforum besprochen, sondern in einer Spielesektion auf Facebook. Der Umbau eines regionalistischen Internets zugunsten eines zentralistischen nahm seinen Lauf, bei dem die reine Masse eine Rolle spielte.

In der Masse geht aber nahezu immer die Qualität unter. Der gewaltige Zuzug von „Neuländern“, die aus dem Alltagsleben ins Internet kamen, ließen oftmals den Duktus fehlen, den man gewöhnt war. Früher konnte man an Stil und Fehlern erkennen, dass man einen Jugendlichen vor sich hatte. Nunmehr traten selbst 30- oder 40jährigen auf, welche von Zeichensetzungsregeln ebenso wenig hielten wie von anständiger Orthographie. Und wenn die Sache erst einmal ins Rollen kommt – ist sie kaum aufzuhalten. In der Masse spielt nicht mehr das Argument oder die Intelligenz per se eine Rolle, sondern das Auffallen um jeden Preis. Laut, schrill, bündig, emotional. Das ist nicht nur beim Internet ein Phänomen, das sich nun zu einem Massennetzwerk wandelte. Und es ist doch kein Wunder, dass der größte Kommentarmorast sich auf Facebook, Twitter und Youtube erstreckt.

Wie gesagt: das ist nicht dem Internet als Solchem, sondern der Masse anzulasten. Es entbehrt nicht der Ironie, dass in dieser Zeit zum ersten Mal immer wieder der Begriff der „Schwarmintelligenz“ auftauchte, die freilich davon ausginge, eine Masse von Menschen sei klüger als ein einzelner. Historiker, die sich nur etwas mit ihrem Fach auskennen, wissen, dass es eigentlich nichts Gefährlicheres als die Masse gibt, eben weil sie unkontrollierbar ist; und wenn, dann nur durch eine starke Hand und mit einfachen, verständlichen Worten formbar. Intellektueller Tiefgang: den kann man dagegen vergessen.

Bleiben wir einen Moment bei den langen Texten. Man muss kein Sprachphilosoph sein, um zu verstehen, dass das Schreiben von essaylangen Diskursen das Schreib- und Denkvermögen schult, und dass es eine wechselseitige Beziehung mit dem gibt, was ich denke, und dem, was ich schreibe. Orwell hat das ausführlich in 1984 beschrieben. Die Sprache ist die Grenze unserer Welt. Wer viel liest und viel schreibt, der hat prinzipiell einen weiteren geistigen Horizont, einfach, weil er seinen Kopf schult wie ein anderer seine Muskeln. Es geht leichter von der Hand, 2.000 Worte täglich zu schreiben, wenn man dies seit Jahren tut. Jemand, der außerhalb der allernötigsten Anforderungen nie schreibt und nur selten liest, wird damit logischerweise größere Schwierigkeiten haben und es bei kleineren, einfacheren Botschaften bleiben lassen.

Demnach habe ich auch eine ziemlich voreingenommene Meinung dazu, wenn Leute auf 140 Zeichen getrimmt werden sollen. Italo hat es auf den Punkt gebracht. Wir amputieren unser geistiges Vermögen. Bei ICQ habe ich niveauvollere und eloquentere Dispute in den Jahren 2003-2007 gehalten als sie mancher Facebook „Habe Hunger. Was soll ich essen?“-Kommentator jemals erleben wird. Statt Diskussionen beherrschen Smileys, Links und Einzeiler mit ungesund vielen Ausrufezeichen oder mannigfaltigen Pünktchen das Schriftbild, ergänzt um belanglose Links zu noch belangloseren Tönen oder Videos. Das Smartphone bringt ein weiteres Unglück dazu: auf einem Smartphone gibt sich nämlich kaum jemand die Mühe, mal nachzudenken und einen stichhaltigen Text zu verfassen; stattdessen glauben viele, der Internetschriftverkehr sei eine Art bebilderte SMS.

Für mich war das Internet auch immer ein Glück, weil man Zeit hatte, sich seine Antwort genau zurechtzulegen und zu überdenken. Man ist allein durch die Tastatur dazu gezwungen. Andere dagegen sehen diese Barriere nicht, und tippen das einfach ein, was sie auch sagen würden. Man sehe sich nur einmal die Tweets und Facebook-Einträge von Persönlichkeiten wie Klaus Kleber, Til Schweiger und Co. an, deren Beiträge oft auf Grundschulniveau daherkommen. Da werden Worte nicht einmal mit Punkt abgekürzt, manchmal steht dort nur ein einzelner Buchstabe. Aber Hauptsache: ich kann mich der Welt mitteilen!

Und da kommen wir zum nächsten Problem der Unhöflichkeit. Höflichkeit entsteht primär aus dem Umgang mit anderen Personen. Diskussionsforen hatten ihren Namen, weil es zumindest meistens um die Sache, das Thema ging, also eben: die Diskussion. Facebook und Twitter funktionieren jedoch per se anders: sie sind Plattformen des Individuums, einsame Inseln im Meer der Masse, wo jeder Schiffbrüchige um Aufmerksamkeit schreit. Es existiert nicht „das“ vorgegebene Thema. Das Thema ist man selbst. Wer aber sich selbst gewissermaßen als der Grund ansieht, um auf diese Dienste zurückzugreifen, sieht die anderen natürlicherweise nur als Publikum, als graue Masse an, die das eigene Leben beklatschen soll. Diskurs setzt Respekt voraus, Austausch von Meinungen führen zwangsläufig dazu, dass ich mich mit meinem Diskussionsteilnehmer auseinandersetze; bei FB & Co. geht aber das Gespräch nur in eine Richtung. Es ist ein Treppenwitz der Internetgeschichte, dass diese Plattformen als Soziale Netzwerke bezeichnet werden, obwohl sie in ihrer klassischen Sender-Empfänger-Funktion eher den Namen a-soziale Netzwerke verdient hätten.

Wenn der Narzisst die Welt nur um sich selbst kreisen sieht, ist es doch völlig logisch, dass er die Welt für belanglos, ja, sogar von sich selbst abhängig sieht. Menschen sind schwach, verführbar, eitel, und neigen dazu, sich abheben und selbstdarstellen zu müssen. Das ist bei vielen veranlagt. Und die fehlende Gruppe, die der totalen Individualität weicht, die schiere Größe und Weite dieser Plattformen mit ihrer Grenzenlosigkeit verführen dazu, sich selbst auf seiner Insel als Nonplusultra anzusehen.

Der Vorwurf der Medien führt daher auch deswegen ins Leere, weil 90% dieser Journalisten gar kein Internet außerhalb dieser Netzwerke kennt. In den verbliebenen Foren, in Blogs, per Email und auch auf diesem Diarium hier habe ich mir zumindest einen kleinen Teil jener Welt von 2003 gerettet, wo man noch angenehm miteinander parlieren kann. Dass ich im allgegenwärtigen Du dieser Welt immer noch das Sie pflege, bis mir andere das Du angeboten haben, ist für mich eine Form von Höflichkeit und Respekt; und nicht zuletzt macht sie klar, dass ich mit FB & Co. so wenig wie möglich zu tun haben will, weil solche Dienste korrumpieren können. Daneben existiert noch eine Vielzahl anderer Seiten, wo sich ich in den Leserkommentaren immer wieder Restspuren eines solchen Gefühls wiederfinden lassen.

Nur, weil die Quantitätspresse sich auf dem Sklavenmarkt in der miesesten Ecke der Hafenstadt Facebook herumtreibt, heißt das ja nicht, dass dies das Problem der restlichen Netzgemeinde ist, die weiterhin in ihren Refugien lebt.

Ich verweise demnach nochmal auf das Traktat Einsamkeit im kommunikativen Gebrabbel