Merkel: ein machiavellistisch-machtpolitisches Psychogramm

Vorab: wollte ich meinen inneren Machiavelli an der gegenwärtigen Kanzlerin anwenden, und alle Register ziehen, so käme dabei ein Buch von mindestens 200 Seiten, gefühlt sogar mehr heraus. Ich will mich daher in diesem kurzen Beitrag nur auf eine Frage konzentrieren, nämlich eine mögliche Deutung für die offensichtliche Unbeholfenheit der Kanzlerin in dieser evidenten Staatskrise, in der wir uns befinden. Meine kurze machiavellistische Abhandlung soll demnach unter einer Kernfrage laufen:

Warum hat Merkel, die es innerparteilich schaffte, alle Konkurrenten auszuschalten und sich gewissermaßen als alternativlose Kanzlerin zu etablieren, außenpolitisch so versagt?

Die Frage erscheint deswegen interessant, da Freund wie Feind Merkel einen formidablen Machtinstinkt unterstellen. Diese Prämisse teile ich. Andere Prämissen, die landläufig zu lesen sind, teile ich dagegen nicht. Insbesondere, wenn diese versuchen, die Bundeskanzlerin in die Richtung Machiavellis zu rücken. Einige kurze Thesen:

Behauptung I: Merkel ist eine Pragmatikerin.

Dies ist der Grundirrtum aller Journalisten. Die vordergründige „geistige Flexibilität“ oder „naturwissenschaftliche Rationalität“ spielen keinerlei Rolle. Denn nicht umsonst wird Merkels Politik mit einem Wort verbunden: Alternativlosigkeit. Wenn Merkel eine Linie fährt, dann hält sie diese auch durch. Die Volte im Falle Fukushimas war kein Pragmatismus, denn Pragmatismus richtet sich nach praktischem Erfolg; faktisch ging die Wahl in Baden-Württemberg verloren, musste auch verloren gehen, da die Union prinzipiell keine Möglichkeit hatte, innerhalb von wenigen Tagen eine glaubwürdige Wende in der Kernenergie verkaufen zu können. Kurz: würden Sie einem Wolf vertrauen, der innerhalb zweier Tage behauptet, plötzlich Vegetarier zu sein?

In der Tat ist Fukushima eigentlich ein Paradebeispiel für Merkels Ideologie. Ihre Theorien stehen über der Wirklichkeit, nicht anders herum. Bei Frau Merkel spielen Ideen, Vorstellungen, Wünsche – womöglich sogar Utopien eine nicht geringe Rolle. Bisher habe ich aber noch niemals eine Deutung in diese Richtung gelesen. Machiavelli würde dagegen Merkel genauso sezieren.

Der dogmatische Kurs während der Euro-Krise (scheitert der Euro, scheitert Europa) und der Griechenlandrettung machten den „alternativlosen“ Kurs Merkels für viele offensichtlicher. Der öffentliche Diskurs zu vielen Sachthemen – Wehrpflicht, Energiewende, Euro, Flüchtlinge – wird mehrheitlich erstickt. Deutsche Politik verlief seit Jahren nicht so „zielstrebig“, man möchte fast sagen: diktiert.

Paradoxerweise trifft auch „Pragmatismus“ (=Handeln) im wahrsten Sinne trotz dieser Entscheidungen oftmals nicht zu, da die meisten der Themen bis heute nicht vom Tisch sind, durch Übergangslösungen glänzen und oftmals nur „ausgesessen“ werden. Durchgreifendes Handeln sieht man hier nicht. Damit steht Merkel im kompletten Gegensatz zu ihrem Vorgänger, der weitaus eher den Ruf eines Pragmatikers erfüllt.

Behauptung II: Merkel prägen ihre DDR-Erfahrungen; das sind die christliche Erziehung und die Gegnerschaft zum DDR-Regime.

Wieder eine Behauptung, die oft auch im angelsächsischen Ausland zu lesen ist, allein: der Zeitraum pre-1989 erscheint vielen Biographen als ein schwarzer Fleck. Man hat den Eindruck, dass aus dieser Zeit teilweise nur widersprüchliche, oder gar keine Quellen zu finden sind, oftmals ist die einzige Quelle Angela Merkel selbst. Ich habe zumindest seit dem Amtseid von Merkel niemals in ihrer Kanzlerzeit irgendeine Erwähnung Christi oder Gottes gehört. In der Tat ist vor allem dieses Bekenntnis aus dem Jahr 2001 wohl der Grundanker zu vielem, wie das „protestantische“ Denken Merkels aussieht.

Durch meinen Glauben habe ich in dieser Zeit gelernt, dass es richtig sein kann, anders zu denken und anders zu entscheiden, als es andere Menschen tun. Das hilft mir heute in einer Zeit, in der allen alles gleichgültig scheint; denn es ist nicht alles gleichgültig. Das Christ-Sein und meine Erfahrungen, die ich als Christ sammeln konnte, schützten mich davor. Dafür bin ich dankbar. Es lohnt sich, sich für spezielle Ziele einzusetzen.

[…]

Mein Glaube lässt mich vieles kritisch hinterfragen manchmal sogar meinen eigenen Glauben selbst. Jesus hat das Bestehende immer kritisch unter die Lupe genommen. Er hat sich mit Zuständen nie zufrieden gegeben, weder mit weltlichen noch religiösen. Klare, eindeutige und einfache Worte hat er zu den Menschen gesprochen. Worte, die sich auf das Wesentliche beschränkt haben und das Wesentliche im Blick hatten.

Zu ersterem Absatz steht freilich Merkels offenes Geheimnis im Kontrast, dass sie üblicherweise tagtäglich alle Meinungsumfragen studiert und sich oftmals nach der Mehrheitsmeinung wendet. Zum zweiten Absatz könnte man einwenden, dass Merkel in nicht wenigen Fällen absolut das Gegenteil dessen redet, was man unter „Klartext“ verstehen würde.

Zudem war Merkel nie Teil irgendeiner opponierenden Kraft innerhalb der DDR. Zur friedlichen Revolution 1989 hatte sie keinen Kontakt. Der Mauerfall ereignete sich, während Merkel eine Sauna besuchte.

Aus machiavellistischer Perspektive: wenn ich als Historiker nur das über Cäsar wüsste, was Cäsar über sich selbst gesagt hat, wäre unser Bild der Antike doch etwas eindimensional. Dennoch wird dies in der Öffentlichkeit so gelten gelassen. Ich möchte mich nicht in Spekulationen verirren oder anderen Behauptungen zu dieser Zeit aufgreifen; ich will einfach nur klarstellen, dass es auch für die obige Behauptungen kaum, oder nur sehr wenige objektive Belege gibt, die nicht aus dem Umfeld Merkels selbst stammen, und man daher die Feststellung, was Merkel prägt, wohl nicht als so – Achtung! – gottgegeben voraussetzen sollte, wie einige Journalisten es verbreiten. Zumindest sollte ein gewisser Zweifel möglich sein.

Als Christ muss man manchmal auch widerstreitende Meinungen aushalten können. Dies gehört für mich zum Christ-Sein dazu.

Das mal allein als Denkanstoß dazu, was Merkel sagt, und was Merkel seit 10 Jahren in Deutschland tut. Ganz abgesehen davon, dass bereits Langguth in seiner Merkelbiographie nachweisen konnte, dass Merkel in Details zumindest flunkerte: so war sie bei der FDJ nicht als „Kulturreferentin“ – wie von Merkel behauptet – zuständig, sondern nach Zeugenaussagen für Agitation und Propaganda. Übrigens war Langguth selbst mehrere Jahre lang geschäftsführender Vorsitzender bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Ist nicht so einfach, über Karl den Großen zu urteilen, wenn man nur die Beschreibungen des Hofschreibers Einhard zur Verfügung hat. Um ein weiteres Problem des machiavellistischen Quellendiskurses zu führen.

Ein zusätzliches Addendum: sollte man jedoch bei der christlichen Erziehung besonders die protestantische Konsequenz, die Art des „ich stehe hier, ich kann nicht anders“ geltend machen, so bin ich zu dieser Deutung durchaus bereit.

Behauptung III: Merkel prägt rational-naturwissenschaftliche Kühle.

Dieser Behauptung würde ich nur zur Hälfte widersprechen. Tatsächlich glaube ich, dass Merkel in sehr rationalen-logischen Bahnen lenkt und auch viele ihrer Entscheidungen danach ablaufen. So halte ich den jetzigen Zustand Deutschlands von ihr rational-logisch gewollt. Sie will die deutsche Demographie „auffüllen“, allein: sie macht in ihrer einfachen Gleichung keinen Gebrauch von den vielen Variablen, die Chaos bedeuten.

Als Historiker rechne ich immer mit der Tragik, immer mit dem Chaos, mit dem Unabsehbaren; als jemand, der sich intensiv mit dem 4. Kreuzzug beschäftigt hat, der Ägypten und Jerusalem erobern sollte, aber mit der Plünderung der allerchristlichsten Stadt Konstantinopels endete, bin ich zu dieser Überzeugung gelangt. Nein, kein venezianischer Plan stand dahinter – es war eine Verkettung von vielen, verschiedenen Entscheidungen, die zu einer unabsehbaren Tragödie führten. Unser Leben lässt sich nicht mit Gleichungen, Äquivalenzzeichen und Theorien erklären; das aber ist ein Skandal in den Augen dieser naturwissenschaftlich verklärten Welt, die das Chaos geringschätzt, obwohl gerade die Physik eine Chaostheorie entwickelt hat.

Ich sehe daher gerade die naturwissenschaftliche Seite Merkels als negativ und nicht positiv besetzt, da sie zur Selbstüberschätzung und im Rückschluss zur Unterschätzung von Risiken führen kann. Die Möglichkeit eines Kontrollverlustes durch übermäßiges Vertrauen in die eigene Ratio ist die große Gefahr; das sollte man sich bereits in der jetzigen Situation vor Augen halten. Insofern sehe ich diese merkelsche Art auch weniger als Kühle, denn vielmehr als ein Mittel zur eigenen Selbstsicherheit an. Die Merkelraute ist ein Symbol des „sich selbst Haltens“ und der übertünchten Anspannung. Es vermittelt Stabilität nach innen, nicht nur nach außen. Um diese mythische Deutung zu überhöhen: die Merkelraute als logisch-mathematisch-klare Form verschafft Merkel jene Stabilität, die sie für ihr eigenes Handeln braucht, das sie ansonsten in Selbstzweifel brächte.

Machiavellistische Herangehensweise: keine Behauptungen oder Vermutungen, sondern Ableitungen aus praktischem Handeln

Kommen wir nach diesen Vorbetrachtungen und Deutungen zu meiner eigentlichen Ansicht; sie beruht weniger auf Psychologie, als auf den faktischen Handlungen Merkels und ihrem Lebensweg.

Merkwürdigerweise wird ein großer Unterschied zwischen Merkel und allen anderen Kanzlern dieser Bundesrepublik nie, oder nur selten erwähnt. Alle Bundeskanzler hatten bereits vor ihrem Amtseid bedeutende Funktionen im politischen System besessen; sie waren nicht nur Apparatschiks, nicht nur Vorsitzende, nicht nur Parteibuchhalter – sie hatten im deutschen Staat selbst wichtige Ämter bekleidet, sie hatten im Konsens und Widerspruch mit anderen „geherrscht“, sie hatten mit Verwaltung, mit Innenpolitik gerungen. Adenauer und Brandt waren beide Oberbürgermeister deutscher Metropolen gewesen; Schmidt hatte auf kommunaler Ebene Erfahrung (Sturmflut) und war mehrmaliger Bundesminister; Kiesinger, Kohl und Schröder hatten sich als Ministerpräsidenten bewährt.

Angela Merkel dagegen war „nur“ Umwelt- und Familienministerin. Von den Kompetenzen und Verantwortungen kommt dies kaum an Schmidts Situation heran. Ihr Leben war das eines Parteikaders; dort hat sie von der Pike auf gelernt, insbesondere unter ihrem Ziehvater Kohl. Merkels Machtinstinkt ist vor allem in der eigenen Partei offensichtlich, wo sie sich jeder Personalie entledigte, die ihr gefährlich werden konnte. Potentielle Konkurrenten wurden entfernt oder man ging strategische Bündnisse ein (Koch, Stoiber). Auch letztere ließ sie nach einem gewissen Zeitraum fallen, wenn diese problematisch wurden.

Andererseits baute Merkel eigene Verbündete auf (Pofalla, Altmaier, von der Leyen etc.) die als treue Vasallen ihr dienlich waren/sind und in bedeutende Schaltpositionen aufstiegen. Kritik an Merkel – besonders an der Basis – galt bald als Majestätsbeleidigung. Auch anderslautende Meinungen zu Sachthemen verloren sich immer mehr unter lauten Bekenntnisrufen. In dieser Hinsicht baute Merkel die gesamte Partei auf; sie machte sich zudem als Vorsitzende alternativlos. Die Partei sollte mit ihr stehen und fallen. Entgegen anderslautende Meinungen war die CDU eben unter Adenauer und Kohl kein purer Kanzlerwahlverein – Männer vom Erhardschen oder Straußschen Format kann man heute jedenfalls als potentielle Optionen nicht erkennen! Das ist ein erheblicher Unterschied.

Merkel hat mit dem Antritt ihres Amtes als Bundeskanzlerin nichts anderes auf staatlicher Ebene getan. Sie hat dieses Land wie eine Partei umgeformt, und SPD wie FDP so im Zaum gehalten, dass die eine Partei ihr Personal verschliss und im 25% Turm landete, die andere dagegen vollständig unterging.

Die Kanzlerin denkt daher nicht in den Dimensionen des Staates, sondern in den Dimensionen der Partei – weshalb auch die Macht selbst zum Eigenzweck wird, und nicht das Wohl des Landes als solches. Allen, die Frau Merkel deswegen Machiavellismus vorwerfen, irren, denn Machiavellis oberstes Prinzip ist ja eben nicht die Macht per se, sondern die Staatsraison, das mantenere lo stato („den Staat erhalten“). Der Fürst ist nicht dazu angehalten, Böses zu tun, weil es ihm nützt, sondern weil er ein Ziel damit verbindet. Oberste Priorität hat der Staat selbst, nicht dessen Herrscher; der Souverän ist bei Machiavelli der Staat; das ist auch der Grund, warum Machiavelli nicht nur die Monarchien im Principe behandelt, sondern auch die Republiken in den Discorsi.

Dabei kommt im Übrigen Machiavelli zum Schluss, dass der Republik der Vorzug zu geben sei; einzelne Monarchen neigen eher zu Fehlern als mehrere Personen an der Staatspitze. Auch das als kleiner Hinweis darauf, dass der Verweis auf Merkels „Richtlinienkompetenz“ als mögliche Legitimierung ihrer Grenzöffnung nach machiavellistischem Verständnis ungültig ist. Denn damit befänden wir uns in keiner Republik mehr, wenn ein einzelner souverän entscheiden darf.

Ganz abgesehen davon, dass jede Tat, die der Staatsraison widerspricht, für Machiavelli eine Idiotie sondergleichen ist.

Dieses Machtparteienspiel funktioniert gut, solange es auf nationaler Ebene stattfindet. Im Ausland dagegen prallt Merkel – trotz Medienhymnen – ab. Denn faktisch gesehen hat Merkel außenpolitisch trotz der Position Deutschlands niemals irgendein größeres Ziel erreichen können. Der Euro ist immer noch Dauerbrenner, ebenso Griechenland. Merkel kann in ihrem strammen Staatsparteienapparat wirken, aber eben nicht in Ländern, deren interner Aufbau nun einmal Aufgabe der jeweiligen Bevölkerung ist. Daher erscheint Deutschland nicht zuletzt als „Belehrer“ im Ausland: denn Merkel ist von ihrer eigenen Heimat gewohnt, dass sie alles unter Kontrolle hat. Die Visegradstaaten, Italien, Frankreich und auch Griechenland sehen das freilich anders.

Adenauer, Schmidt und Konsorten haben sich innenpolitisch immer wieder dem Kompromiss und der Diskussion gestellt und ihre Kollegen nicht aussortiert, um dann in Ruhe arbeiten zu können. Merkel ist dagegen im Grunde nicht kompromissfähig. Und wenn es nicht nach ihren Vorstellungen geht, schiebt sie Entscheidungen hinaus. Dazu gehört auch die Griechenlandkrise, bei der Merkel weniger einknickt, als vielmehr die Krise als solche immer wieder verschleppt und vertagt. Auf Nationalebene ist sie zu sehr daran gewöhnt, „ihren“ Willen zu bekommen. Womöglich ist sie durch heimische Akklimatisation auch überhaupt nicht mehr in der Lage, starke Gegenmeinungen zu akzeptieren.

So erklärt sich auch das angespannte Verhältnis zu Russland. Die Krim ist längst verloren. Statt aber dies zu akzeptieren, und das Krimgewicht gegen russische Konzessionen (Demokratischer Prozess, Geldzahlungen an die Ukraine, Gaslieferungen; der Spielraum wäre unermesslich!) zu tauschen, bleibt man beinhart bei Sanktionen und verlangt immer noch die Rückkehr dieses Territoriums in den ukrainischen Staat. So sieht Ideologie in Reinform aus.

Auf die jetzige Krise bezogen ist daher klar zu prognostizieren, dass Merkel wohl auf lange Sicht nicht von ihrem Kurs abgeht, eben weil sie keine Pragmatikerin ist.* Noch schlimmer: dieses Verhalten hat System, und ist keineswegs irrational, sondern aus Merkels Blickwinkel sogar sehr kohärent. Dazu reicht nur ein kurzer Blick in ihr bisheriges Handeln, das man – meiner Ansicht nach – bisher völlig verklärt und verkannt hat.

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*Als einzige Option erscheint ein Treffen auf EU-Ebene, bei dem Merkel auch öffentlich wahrnehmbar als isoliert gilt, und im Sinne des „ich werde dazu gezwungen“ der ganzen Welt mitteilt, dass sie doch umschwenken muss; freilich ohne ihre Prinzipien aufzugeben. Es bleibt demnach spannend, ob die übrigen EU-Staaten diese „gesichtswahrende“ Option erlauben, oder Merkel eiskalt auflaufen lassen.