Im September 2014, vor etwa anderthalb Jahren, schrieb ich, warum die EU nicht Europa ist. Zum Glück, wie ich hinzufügen möchte – denn die EU wankt an allen Fronten.
Ich möchte daher ein paar Beispiele aus machiavellistisch-historischer Sicht exerzieren. Machiavelli ist eiskalter Betrachter der Fakten. Etwas, was der Medienlandschaft, insbesondere in Deutschland, fehlt. Während hierzulande die EU immer noch beschworen wird, ist de facto nur noch der Bürokratieapparat mit seinen Regelungen vorhanden. Der Rest fasert sich langsam aber stet auf.
Kommen wir zu den drei großen Schlagworten, welche die Präsenz der EU in unserem Alltagsleben als auch auf höchster europäischer Ebene prägen: Gemeinsame Währung/Wirtschaft, offene Grenzen und Frieden.
Bezüglich des Euros ist es derzeit sehr still geworden, weil die neuerliche Völkerwanderung Europa so sehr im Griff hat, dass man seit September 2015 denken könnte, Griechenland habe sich erledigt. Ich rufe nochmals die Zäsur des griechischen Referendums aus dem letzten Sommer in Erinnerung. Der derzeitige Flüchtlingsstrom ist dabei für das kleine Land, das zum größten Teil aus Felsen, Meer und Inseln besteht, ein zusätzliches Pfand. Wie ein bereits dreifach bankrottes Land zudem mit der Sicherung der Außengrenzen fertig werden soll, bleibt ein Geheimnis.
Auch die neuerlichen Reformen – darunter eine strittige Rentenreform, die den sozialen Frieden zwischen Ionischem Meer und Hellespont auf die Probe stellt – werden kaum die finanziellen Probleme lösen können. Im August 2015 schnürte Brüssel das dritte Hilfspaket über den ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) mit 86 Milliarden Euro. Insgesamt haben die EU-Staaten seit April 2010 ca. 250 Milliarden Euro nach Athen überwiesen.
Zum Vergleich: beim Ausbruch der Staatsschuldenkrise hatte Griechenland eine Verschuldung von ebenfalls ca. 250 Milliarden Euro.
Auch wenn sich die Lage verbessern sollte: wird Griechenland jemals diese Situation überleben? Die EU hat das Problem vielmehr verschlimmert als verbessert. An der Schnittstelle zwischen Europa und Asien wächst ein potentieller failed state heran, den man mit billigem Geld zu erdrücken droht, zu Lasten aller EU-Staaten. Nunmehr wird insbesondere auch noch von der deutschen Regierung, die letztes Jahr mehr als eine Million junger Männer zu sich nach Hause einlud, an Athen die Forderung ausgegeben, die Grenzen zu sichern. Ein Treppenwitz der Weltgeschichte. Das hochmoralische Deutschland will sich nicht die Finger dreckig machen. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.
Dass die Sache noch nicht ausgestanden ist, zeigt auch die Lage Spaniens. Spanien wird derzeit viel zu wenig Beachtung geschenkt. Zwar spielt hier die Flüchtlingskrise eine geringere Rolle; aber die Situation auf der iberischen Halbinsel ist wirtschaftlich wie politisch angespannt. Nach der Wahl haben sich Einfluss und Macht der beiden Altparteien verlagert und teilweise aufgelöst. Zwei neue Bewegungen kommen ins Spiel; die neuen Linken von „Podemos“ erinnern an die griechische Syriza von Ministerpräsident Tsipras. In der wirtschaftlich wichtigsten Region Katalonien kam erst am letzten Tag eine Koalition zustande; die separatistische Bewegung ist immer noch stark. Tatsächlich gibt es Pläne, sich bis 2017 von Spanien abzuspalten. Gerade aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung ist der Streit um die Region Katalonien ein Pulverfass.
Und Italien? Die allgemeine, depressive Stimmung der letzten Jahre existiert nicht mehr im selben Maße wie früher. Womöglich bringt Renzis Regierung sogar einen gewissen Zustand der vorübergehenden Stabilität. Das sollte aber nicht über die weiterhin prekäre Lage hinwegtäuschen. Die Arbeitslosigkeit ist – wie in Spanien – immer noch hoch; und insbesondere die Banken machen wohl wieder der Erholung einen Strich durch die Rechnung. Die Schulden bleiben exorbitant – wenn auch die 130% Verschuldung des Haushalts nicht darüber hinweg täuschen sollte, dass diese Schulden zumeist hausintern, heißt, bei den eigenen Bürgern liegt. Italien ist demnach zwar überproportional verschuldet, das aber vor allem bei sich selbst.
Paradoxerweise sind Italien und Spanien mit 18% bzw. 12% am ESM beteiligt. Heißt: die sowieso schon gebeutelten Mittelmeerländer dürfen zusätzlich für Griechenland zahlen. Obwohl sich also beide Länder in der Schieflage befinden, berappen sie weiterhin ihren Anteil an den ESM-Gebühren wie das wirtschaftlich (noch) intakte Deutschland, das 27% der Last trägt. Was aber passiert, wenn die beiden südlichen Geberländer tiefer in die Krise schlittern, womöglich auch Frankreich denselben Weg geht? Deutschlands Kapazitäten dürften dann bald erschöpft sein. Statt im Sinne des Föderalismus Subsidiarität walten zu lassen, um wenigstens die halbwegs Gesunden zu erhalten, wird die Schieflage eines Staates dazu führen, dass die anderen wie Dominosteine umfallen. Das ist der Preis des Zentralismus.
Diese Aussichten werden langfristig dazu führen, dass die Eurokrise auf Jahre, womöglich Jahrzehnte laufen wird, wenn es nicht zu einer radikalen Reform der gemeinsamen Währung kommt – in welche Richtung auch immer. Finnland, eines der kleinen EU-Geberländer, befindet sich auf Talfahrt und will sich womöglich vom Euro trennen. Slowenien, ebenfalls ein kleines Geberland, hat nun zusätzlich unter der Welle aus dem Orient zu leiden. Bei einem möglichen EU-Austritt Großbritanniens dürfte das gesamte Agrarsubventionenkonstrukt in eine katastrophale Schieflage geraten, von der Frankreich am stärksten betroffen wäre – sollte Deutschland nicht auch hier zahlend einspringen. Der deutsche Osten sowie die Randgebiete Spaniens und der italienische Mezzogiorno dürften dann weniger EU-Fördergelder erhalten, außer, die Subventionierung wird grundlegend reformiert, im Zweifelsfall durch höhere Zahlungen anderer Mitgliedsstaaten.
Es ist recht offensichtlich, wie gerade die beiden Grundkonzepte Schengen und Maastricht ins Wanken geraten; wie die Währungskrise und die Grenzkrisen zu den Themen der EU geworden sind. Und wie der Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten zumindest auf diplomatischer Ebene schief hängt. Letzteres ist noch (!) weniger offensichtlich. Doch die neuerliche Einmischung Deutschlands in innerpolnische Angelegenheiten; die Belehrungen gegenüber den Visegrad-Staaten Ungarn, Tschechien, Slowakei und eben Polen; die Diffamierung jedweder Idee, die nicht mit der Brüsseler (und Berliner) Leitidee übereinstimmt; sowie die Abkanzelung anderer Parteien, die nicht zu den Altparteien gehören (dies reicht von Regionalisten über klassische Konservative, Nationalisten, „Rechtspopulisten“ bis hin zu „Linkspopulisten“) sprechen Bände über das autoritärer werdende Klima, das sich in der Abenddämmerung der EU andeutet.
Merkel hat die ganze EU auf Alternativlosigkeit getrimmt.
Doch gerade die Vorgänge im östlichen Mitteleuropa, dort, wo es bereits vor einem Vierteljahrhundert grollte, zeigen erneut, dass vielleicht die EU im Sterben liegt, Europa aber nicht tot ist. Der Bund der Visegrad-Staaten ist eine offene Anti-EU. Der Name ist mit Bedacht gewählt. Visegrád war bedeutender Treffpunkt der böhmischen, ungarischen und polnischen Könige. Man sollte diesen Bund nicht unterschätzen, der bereits ein eigenes Kampfbataillons aufstellen will (EU-Battlegroup). Damit sind diese Staaten deutlich näher an den Ideen Adenauers, der noch in den 50ern eine eigene Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gefordert hatte.
Was dort im Gange ist, ist nichts weiter als das Wiederauferstehen eines großen Blocks zwischen Mitteleuropa und Russland, wie es ihn jahrhundertelang in der Form der Polnisch-Litauischen Union gegeben hat. Nur, dass diesmal die bereits damals befreundeten Staaten Polen und Ungarn das neue Tandem stellen. Die Stärke der Visegrad-Staaten liegt in ihrer Flexibilität: statt im Klein-Klein Brüssels zu versinken, trafen diese Staaten schnelle Absprachen und einigten sich bei den brennendsten Punkten auf eine gemeinsame Linie. Orbans Grenzzaun bewachen eben nicht nur ungarische, sondern auch polnische, tschechische und slowakische Sicherheitskräfte. Hier sind keine EU-Gesetze oder Normen, bzw. der Wust von verschiedenen europäischen Institutionen sowie deren abgehobenen Ideale der Leitgedanke – sondern knallharte, realistische Politik.
Auf der anderen Seite sieht man – wenn man mal Medien außerhalb Deutschlands liest – eine zunehmende Annäherung Italiens und Frankreichs. Der französisch-deutsche Motor der EU scheint derzeit außer Betrieb. Die beiden großen, romanischen Nationen dagegen haben insbesondere in der Fiskalpolitik gleichartige Interessen. Das UK hat sich – auch ohne Referendum – mental längst von der EU verabschiedet. Mit dem ideologischen Umschwung in den skandinavischen Staaten – allen voran Schweden – ist noch abzuwarten, inwiefern sich dort eher pan-skandinavische, als pro-europäische Gefühle neuerlich ausbreiten.
Deutschland, das mächtigste Land des Kontinents der letzten 20 Jahre, hatte seine Chance. Es hat zu viel gewollt, zu hoch gespielt, zu viel zentralisiert und war in der ersten Reihe, als es um die Mechanismen ging, welche für die Auflösung der EU in ihrer jetzigen Form verantwortlich waren: der ESM, die Außerkraftsetzung des Dubliner Abkommens, der Bruch der Maastricht-Kriterien. Letzteres, der „blaue Brief“ aus Brüssel, geschah noch zu Schröders Zeiten.
Der Rest aber ist vor allem der derzeitigen Bundeskanzlerin anzulasten, die das Erbe Adenauers, für dessen Entwicklung es 50 Jahre gebraucht hatte, in nur einem Fünftel der Zeit zu zerstören wusste. Ein lockeres, konföderiertes Europa, mit einer eigenen Armee und eigener Sicherheitspolitik wäre die langsame, aber wichtigste Aufgabe der 2000er und 2010er Jahre gewesen. Stattdessen vergemeinschaftete man Schulden, richtete verdeckte Ausgleichszahlungen ein und finalisierte den bürokratischen Apparat, der bis heute einer echten Verfassung entbehrt.
Ein Staat ohne Flotte und Armee existiert nicht. Man kann mit rein statistischen, wirtschaftlichen Werten keine Macht begründen. Und noch desaströser: ohne Armee und Flotte kann man letztere auch nicht verteidigen.
Das war der große Fehler der Entwicklung ab 1989.
Es existiert kein historisches, staatliches Gebilde, bei dem der Staat der Währung folgte. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das als bestes Vorbild für eine neue EU gelten könnte, hatte bis zu seinem Ende dutzende von Währungen in nahezu dreihundert Territorien. Und obwohl insbesondere von der preußischen Forschung madig gemacht, so hatte dieses Reich eine ungeheure stabilisierende Kraft, welche immer wieder Frieden und Recht stiftete – und nicht zuletzt zweimal die Türken bei Wien aufhielt. Selbst eine Reichsarmee existierte, wenn auch mit wechselnden militärischen Erfolgen.
In Polen wird dagegen bereits die EU-Flagge eingeholt. Das Ereignis macht hellhörig.
Denn in meiner geliebten Serenissima war das Abnehmen der Flagge das letzte, und nicht das erste Zeichen des Untergangs.