Auf dem Cathwalk erschien dieser Beitrag bereits vorab; um Bilder und Medienaktivitäten bereichert und zum Herzen und zum Teilen. Er hat in Sozialen Netzwerken und auch auf ein paar Blogs schon Wellen geschlagen. Nun auch hier, zu hause, in Ihrem Diarium.
Katholisch.de schlachtet das alte Europa auf dem Altar von Populismus und Relativismus: das Abendland sei nur eine Fiktion. Autor Manfred Becker-Huberti arbeitet dabei nicht nur mit Aussparungen, sondern widerspricht auch der Quellenlage. Unter Ausklammerung großer Teile mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Geschichte gipfelt seine Darstellung in einer offenen Unwahrheit über Adenauers und De Gaulles katholische Ansichten bei der Gründung eines neuen christlichen Europas. Eine Erwiderung.
„Das Abendland gibt es gar nicht“ – eine Floskel, die immer häufiger erschallt. Die Gründe sind politischer Natur. Um einer ungeliebten Gruppierung den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird nicht nur ein Begriff, sondern eine ganze Vorstellungswelt stigmatisiert. So bereits in der FAZ, der Welt und jüngst sogar auf katholisch.de. Letzterer Fall ist umso erschütternder, da Golgatha, Kapitol und Areopag die drei Hügel Europas sind und gerade die katholische Kirche zwei dieser Fundamente schützen sollte, statt sie in der Manier der Frankfurter Schule zu dekonstruieren – nicht zuletzt, weil sie selbst auf diesen fußt.
Beginnen wir mit dem ersten Knackpunkt: „Abendland“, was ist das eigentlich? Die romanischen Sprachen nutzen als Entsprechung die Ableitung vom lateinischen occidens, was im Deutschen häufig mit „Westen“ übersetzt wird, aber im Sinne der untergehenden Sonne (Okzident im Gegensatz zu Orient) genau das beschreibt, was das Deutsche meint. „Abendland“ und Europa sind damit in der europäischen Geisteswelt vor den Weltkriegen deckungsgleich. Erst die jüngste Zeit, die „Europa“ zu einem politischen Projekt macht, und den „Westen“ vor allem als transatlantische Entsprechung zum kontinentaleuropäischen Begriff setzt, hat hier einen Bedeutungswandel herbeigeführt. Dies gilt zu beachten, wenn im Nachfolgenden von „Europa“ die Rede ist, das vor 1900 synonym für Abendland verwendet wurde.
Der Verweis von Becker-Huberti darauf, dass das Abendland nicht christlich sei, weil es die Orthodoxie ausschlösse, bildet eine merkwürdige Argumentationslinie – nur, weil das Abendland begriffstechnisch als christlich gilt, schließt dies nicht grundsätzlich aus, dass auch andere Gebiete der Welt christlich sein können. Byzanz hat sich als zweites, rechtmäßiges Rom verstanden, und Moskau anschließend als drittes. Die Stilisierung zur wahren christlichen Macht und rechtmäßigen Verkörperung der Braut Christi ist ja gerade keine Ausnahme, sondern die Regel und bestimmendes Moment einer Welt, die sich genuin christlich, und ihre Angehörigen als auserwähltes Volk ansieht. Im Übrigen haben alle Staaten auf europäischem Boden ähnliches getan, von der französischen Monarchie bis hin zur Republik Venedig. Die Reklamation der Nachfolgerschaft Roms und des Ideals einer civitas dei kann der Historiker von den Thronen Spaniens über den Bischofsstuhl Kölns bis in die Gassen Liguriens finden. Gerade dieser Wettbewerb und diese Vielfalt sind es, die Europa sein Gesicht geben. Die Protestanten, allen voran die calvinistischen Niederländer, stehen in derselben Fortsetzungslinie. Der Exklusionsgedanke (Welt gegen Geist, Heiden gegen Christen) findet sich bereits im Neuen Testament und ist – entgegen landläufiger Meinung – historisch betrachtet gerade ein Merkmal des Christentums. Insofern ist auch die Ansicht des Autors, dass die Abgrenzung eines irgendwie gearteten „Wir“ von einem „Nicht-Wir“ gefährlich sei, nicht nur historisch fraglich.
Wirtschaftshistorisch ist auf Max Weber zu verweisen, der bereits vor einem Jahrhundert richtigerweise den Typus der okzidentalen (!) Stadt sezierte, die nur vom Hansekontor Bergen bis zur Republik Dubrovnik, und von Lissabon bis Novgorod anzutreffen ist. Nirgendwo sonst auf der Welt hat sich diese spezifische Lebensart ausgeprägt, mit der unsere europäische Identität einhergeht, und Vorläufer unserer Werte sind: hier erblickte in der Renaissance der Humanismus und das Individuum das Licht der Welt, hier wurde die Marktwirtschaft geboren, hier entwickelte sich der Begriff jener Freiheit, die im Gegensatz zur Unterdrückung steht. Auch das ist keine Fiktion, sondern Basis eines fundierten Studiums zur Geschichte Europas.
Steingeworden ist das Abendland in seinen Kirchen, deren Aussehen divergieren mag; aber obwohl der Dom von Mailand, die Westminster Abbey und der Elisabethdom von Kosice Meilen und Sprachen trennen, sieht man doch hier die Architektur der Gotik durchstechen; bei anderen europäischen Baustilen verhält es sich ähnlich. Die europäische Literatur baut zudem grundlegend auf den antiken Epen und der christlichen Tradition auf. Die Intellektuellen des Kontinents sahen sich seit der Renaissance als eine Gemeinschaft, die Austausch in einer Sprache – zuerst Latein, später Französisch – pflegte. Man muss nur einen Blick auf die Literatur seit dem Spätmittelalter werfen, deren Autoren sich untereinander kannten und einander schrieben. Ähnlich war es übrigens mit dem europäischen Adel, der sich als eine Familie sah. Vermählungen mit Dynastien außerhalb der christlich-abendländischen Welt waren undenkbar – im Übrigen auch ein Symbol für politische (!) Einheit, da es Familien waren, die das Schicksal der Staaten in ihren Händen hatten.
Auch vom Gelehrten Pierre Dubois, der als Schüler Thomas von Aquins bereits im 13. Jahrhundert eine pax christiana konzipierte und einen europäischen Staatenbund vordachte, scheint heute nichts mehr bekannt zu sein – wie aber soll man einen europäischen Staatenbund denken, wenn es angeblich keine Gemeinsamkeiten gab, oder zumindest eine gefühlte, gemeinsame Identität?
Es ist augenfällig, dass in der gesamten Abendland-Argumentation die Epoche der Frühen Neuzeit kaum gestreift wird, außer, um auf die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges zu verweisen – ohne den Westfälischen Frieden, jenen größten Ausdruck europäischer Identität, nur für eine Sekunde zu erwähnen. Vermutlich, weil gerade dieser Frieden Becker-Hubertis Traktat in Schwierigkeiten bringt: im Vertragstext wird nämlich wie immer „ein christlicher, allgemeiner, immerwährender Frieden und wahre und aufrichtige Freundschaft“ verlangt, wie schon in den Vorgängertexten des Mittelalters. Das Abendland identifizierte sich also auch noch in nachreformatorischer Phase als „res publica christiana“, als „christliche Republik“, die nach Kriegen immer einen christlichen Frieden schließt, nach dem alles vergeben und vergessen sei – ganz im Gegensatz zu den Konflikten seit dem Ende des 1. Weltkriegs, bei denen Schuldzuweisungen und die totale Vernichtung des Kriegsgegners das oberste Ziel darstellen.
Wer jetzt einwenden mag, dass diese Beschwörungsfloskeln nur inhaltsleere Parolen seien, dem sei entgegnet, dass die christlichen Staaten des alten Europa mit dem muslimischen Reich der Osmanen nie einen Frieden schlossen, sondern nur Waffenstillstände. Revanchismus war hier die Regel. Selbst bei den sog. „Raubkriegen“ Ludwigs XIV. von Frankreich versuchte man sich zuletzt auf Friedenskongressen gütlich zu einigen, indes der Krieg gegen äußere Mächte eine Frage von Tributzahlung oder Tributforderung war. Wer noch einen Beweis will: nach dem Spanischen Erbfolgekrieg Anfang des 18. Jahrhunderts, der vielen Historikern der Frühen Neuzeit als „Erster Weltkrieg“ gilt, da er auf allen Kontinenten zwischen den damaligen Großmächten – Spanien, Frankreich, Großbritannien, Österreich und den Niederlanden samt Kolonien in Übersee – ausgetragen wurde, kam es zum Utrechter Frieden von 1713. In diesem Friedenstext wird der Begriff „Europa“ wortwörtlich verwendet, um die europäische Staatenwelt zu benennen. Europa, das ist der occidens, das ist das Abendland, das angeblich nur „unfundierte Fiktion“ ist. Für die Unterzeichner von Utrecht galt das freilich nicht.
Noch ein letztes Wort zu Adenauer: zu behaupten, die Abendlandkonzeption der 50er sei „entchristlicht“ worden, um sie bürgerlich-konservativen Kreisen schmackhaft zu machen, entbehrt jedweder Grundlage. Es war genau andersherum: das Abendland De Gaulles und Adenauers war dezidiert christlich, ja, sogar „katholisch“. Beide Staatsmänner waren tiefgläubige und praktizierende Katholiken, die gerade über diese Idee des christlichen Abendlandes eine gemeinsame Freundschaft begründeten; erst über diese im besten Sinne „abendländische“ Mentalität war eine Aussöhnung möglich! Die Symbolgesten, wie in der Kathedrale von Reims, waren keine bloße Publicityveranstaltung. Ein Zitat von De Gaulle: „Was wir schaffen wollen, ist ein christliches, im gemeinsamen Christsein versöhntes Europa.“
Dass die heutige EU nichts mit De Gaulles und Adenauers Idee zu tun hat, ist freilich nicht den Gründungsvätern anzulasten.
Für einen Theologen mag daher eine Aneinanderreihung von Behauptungen genügen. Historiker sind allerdings dazu gezwungen, Quellenbefunde in ihrer Arbeit Priorität einzuräumen. Dass die europäische Diplomatie der Frühen Neuzeit und die Intellektuellen des Mittelalters ganz selbstverständlich eine irgendwie geartete, kulturelle Identität Alteuropas annahmen, während die Zeigeistigen heute dies für jene Epoche infrage stellen, entbehrt nicht der Ironie.
Es ist daher verfehlt, wenn Manfred Becker-Huberti seinen Text mit dem Argument politischer Auseinandersetzungen beginnt. Europa bzw. das Abendland war seit dem Untergang eines Römischen Reiches hindurch eine kulturelle Gemeinschaft. Politische Auseinandersetzungen wie den Dreißigjährigen Krieg oder die Deutsch-Französische Feindschaft (die überdies nicht jahrhundertelang, sondern von 1870 bis 1945 andauerte, dazu mit einer Unterbrechung in den 1920ern – so viel Zeit muss sein!) als Kontraargument anzuwenden, überzeugen daher nicht, besonders nicht, wenn man die jahrhundertelangen Zeiten von kulturellem Austausch, gegenseitiger Inspiration, gemeinsamer Kriege und geteilter Geschichte dagegen anwendet. Eine Familie mag sich streiten, deshalb bleiben Brüder jedoch weiterhin Brüder.