Miszelle zum Wissensverkehr zwischen Orient und Okzident

6. Mai 2017
Kategorie: Antike | Europa | Historisches | Mittelalter | Venedig

Womöglich hat es der eine oder andere mitbekommen: letzte Woche war der Wissenstransfer zwischen den Muslimen und Christen des Mittelalters Thema auf den Acta Diurna von Michael Klonovsky. Verschiedene Leser nahmen dabei Stellung, welche Klonovsky auf der Webseite zitierte. Auch in der Forschung handelt es sich bei der Frage, wie die antiken Schriften – vor allem der Aristoteles – wieder ins Abendland gerieten, um ein umstrittenes Feld. Noch im Gastbeitrag von Frl. Roesch lesen wir, wie Abdel-Samad unterstrich, dass selbst für diesen Transfer antiker Schriften weniger die „Araber“, als vielmehr die Christen und Juden in den arabischen Reichen zuständig waren.

Nach Lesung der meisten Leserzuschriften – der Komplex ruft nach Zustimmung und Widerspruch – rundet sich das Bild ab, dass der Transfer mehrheitlich über Bagdad und Toledo, bzw. die Mozaraber ablief, und Byzanz keine Rolle gespielt hätte. Exemplarisch nehme ich diese Stelle heraus:

„Diese in der Forschung als Minderheitenmeinung bewertete Interpretation, die sichtbar das Ziel verfolgt, den arabischen Beitrag zur abendländischen Kultur kleinzureden, korrespondiert weder mit den Ereignissen vom April 1182, als die Byzantiner unter den ‚Lateinern‘ der Stadt ein furchtbares Massaker anrichten, bei dem an die 30.000 Menschen niedergemetzelt und über 4.000 versklavt werden, noch mit den Grausamkeiten des 4. Kreuzzuges (1202-1204), in dessen Verlauf Byzanz von den ‚Lateinern‘ hemmungslos ausgeplündert wird. Bereits das Schisma im 11. Jahrhundert mit wechselweiser Exkommunikation und Verdammung dürfte das Klima zwischen Ost und West, Byzanzinern und ‚Lateinern‘, auf einen frostigen Tiefpunkt gebracht haben, so dass die Byzantinern kaum einen Anlass gesehen haben dürften, den lateinischen Christen bei der Suche nach kostbaren antiken Texten zu helfen.“

Zuerst einmal wäre festzustellen, dass es vielmehr im Diskurs den Hang eines „alles oder nichts“ gibt. Das Schicksal der Griechentexte scheint schicksalhaft an die Araber geknüpft. Heißt: „Ohne die Muslime kein Zugang zu Aristoteles“. Diese Zuspitzung ist das Kernproblem. Sie lässt nur zwei absolute Thesen zu:

a) Das antike Wissen, das in der Völkerwanderung verloren ging, wurde über den „arabischen Umweg“ und Spanien wieder nach Europa vermittelt. Zugespitzt: ohne Araber keine Griechen.
b) Das antike Wissen wurde über die christlichen Byzantiner, welche eine historische Kontinuität vorweisen (es handelt sich schließlich um Ostrom), neuerlich an den lateinischen Westen vermittelt. Es brauchte keine Araber.

Problematisch erscheint diese „Schicksalsmäßigkeit“, und die halte ich weitaus eher ideologisch bedingt, als das, was im Leserkommentar „Minderheitenmeinung“ genannt wird. Minderheitenmeinungen sind in Deutschland übrigens oftmals nicht unrichtig; so war auch die These der „Nicht-Alleinschuld“ Deutschlands am Ersten Weltkrieg eine Minderheitenmeinung. Leider kommt nicht immer ein Christopher Clark zur Rettung von außen.

Bevor wir einsteigen, kurz ein paar Bemerkungen. Der größte Verlust antiken Wissens geschieht im Westen wohl schon vor dem 6. Jahrhundert: bereits der spätantike Gelehrte Boethius hatte in seiner Bibliothek nur noch die wenigen Bücher, welche später über Jahrhunderte in europäischen Klosterbibliotheken kopiert werden. Im römischen Osten dagegen bleibt dieses Wissen wohl noch längere Zeit intakt, ansonsten hätte es nicht von den Arabern rezipiert werden können, die ab dem 7. Jahrhundert in der Levante und Ägypten einfallen. Über christliche und jüdische Übersetzer gelangen diese Bücher, die dem Westen fehlen, über das muslimische Spanien ab den 12. und 13. Jahrhundert nach Europa.

Der Knackpunkt ist folgender: in Byzanz besteht die Tradition fort. Bis zum 4. Kreuzzug steht die größte Bibliothek des Mittelmeerraums in Konstantinopel. Es handelt sich um jene Kaiserliche Bibliothek, die seit der Antike besteht, und von allen nachfolgenden oströmischen Kaisern beibehalten wurde. Es erscheint fraglich, warum dieser Buchbestand schlechter sein sollte als der in den oströmischen Provinzen, die von den Muslimen erobert wurden, war es doch antikes Prozedere, dass von jedem Buch im Reich ein Exemplar in der Kaiserbibliothek stand.

Gerade aus der Perspektive der italienischen Seerepubliken, von denen Venedig eine „special relationship“ mit Byzanz hatte, erscheint ein muslimischer Transfer besonders seltsam. Das Interesse an der Antike erwacht zuerst in Italien, in einer Art erster Renaissance ab dem 11. Jahrhundert; die sich dort bildenden Kommunen mit ihrem republikanischen Charakter eifern dem römischen Vorbild nach. Antike Philosophie und Geschichtsschreibung wird „in“. Die italienischen Kaufleute haben dabei den Kontakt mit dem Osten nie abgebrochen. Venedig ist selbst Fleisch vom byzantinischen Fleisch – es gehörte nie dem Frankenreich Karls des Großen an, sondern entglitt als byzantinischer Außenbezirk den Autoritäten in Konstantinopel. Die Verwobenheit mit dem Osten sieht man immer wieder in den Kirchen Venetiens: nicht nur in San Marco, die eine Kopie der byzantinischen Apostelkirche ist, sondern auch in den viel älteren Kirchen von Torcello oder Grado. Dort findet man sogar bis heute Ikonostasen, die eigentlich dem orthodoxen Ritus vorbehalten sind.

Die Frage lautet daher: wieso soll in einem über 500jährigen Zeitraum kein Händler auf die Idee gekommen sein, Manuskripte mit dem byzantinischen Gegenpart zu tauschen? In Konstantinopel selbst lebten Gemeinden von tausenden Pisanern, Genuesen, Amalfitanern und Venezianern, die direkten Zugriff gehabt hätten. Wonach Nachfrage besteht, das erwirbt man auch. Zudem ist bekannt, dass die Kaiser von Konstantinopel nicht nur ihrem kaiserlichen Kollegen im Westen Bücher zu besonderen Anlässen schenkten, sondern auch den Königen von Sizilien und den Vertretern der italienischen Städte. Das geschieht alles bereits vor dem Boykott gegen Venedig in den 1170ern, dem Lateinermassaker in 1180ern und dem 4. Kreuzzug in den 1200ern.

Aber selbst diese Zäsuren im Verhältnis zwischen Ost und West zerrütten die Völker nicht vollständig; warum die orthodoxen Byzantiner wegen der Massaker in Konstantinopel nicht gewillt sein sollen, ihr Wissen preiszugeben, die Muslime jedoch nach denen in Spanien und dem Heiligen Land schon (wir befinden uns mitten in der Reconquista und den Kreuzzügen), das mag mir nicht in den Kopf gehen.

Denn selbst wenn man den 4. Kreuzzug als Bruchpunkt annehmen will, weil nach der Plünderung Konstantinopels durch ein Heer marodierender Lateiner kein Grieche je mehr seinen Aristoteles herausrücken will – dafür ist es jetzt zu spät. Denn nicht trotz, sondern wegen Konstantinopel kommen die Bücher nach Europa. Nach dem 4. Kreuzzug hören wir nichts mehr von der Kaiserlichen Bibliothek. Vermutlich sind große Teile zerstört worden; sicher ist jedoch, dass die Venezianer nicht nur die berühmten vier Bronzepferde, Edelmetalle und Reliquien aus Konstantinopel erbeuten, sondern auch Manuskripte. Dieser Fundus griechischer Texte wird insbesondere in Deutschland kaum thematisiert, obwohl er Beutegut von bester Qualität darstellt.

Ketzerisch gefragt: wie wahrscheinlich ist es, dass Venedig, dass bis 1170 exzellente Beziehungen mit Byzanz unterhielt und später auch noch an der Plünderung der Bibliothek von Konstantinopel beteiligt war – Bücher sind teuer und kostbar – kein einziges Buch mit antiken griechischen Texten ergatterte?

Selbst danach endete nicht die Korrespondenz mit Byzanz. Das Debakel von Konstantinopel war eben keine Zäsur für die byzantinisch-venezianischen Beziehungen, sondern ein Intermezzo. Nur wenig später verbündeten sich Venezianer und Griechen gegen die Pisaner oder Genuesen, später auch gegen die Türken. Venedig kämpfte selbst noch 1453 auf Ostroms Seite als letzteres fiel. Um es deutlich zu machen: obwohl die Byzantiner 1205 aus ihrer eigenen Hauptstadt fliehen mussten, weil Venezianer und Lateiner dort ein eigenes Kaiserreich gründeten, heirateten nur wenige Jahrzehnte später bereits Töchter aus dem byzantinischen Kaiserhaus Laskaris erneut venezianische Nobili. Und solche Ehen zwischen angeblich verfeindeten Völkern sollen möglich gewesen sein, aber nicht der simple Wissentransfer antiker Literatur?

Zuletzt – diesen Passus hatte ich auch Klonovsky geschrieben, jener allerdings nicht veröffentlicht – führen italienische Historiker den Aufschwung Venedigs als Buchdruckerstadt im 16. Jahrhundert auf dieses griechische Sondergut zurück. Zwar hatten auch zwischen der Plünderung Konstantinopels und der Erfindung des Buchdrucks Exilgriechen immer wieder Bücher aus dem Osten nach Venedig gebracht (Bessarion im 15. Jahrhundert ist der bekannteste), aber der große Fundus war bereits in der Renaissance bekannt als jener, der aus Konstantinopel kam. Eben weil in Europa auch noch um 1500 keine reichhaltige griechisch-antike Literatur zirkulierte, pilgerten die Drucker nach Venedig um die dortigen Texte im ganzen Abendland zu verbreiten. Der bekannteste ist dabei Aldus Manutius, dessen Aldinen – die Vorläufer der Taschenbücher – antike griechische Literatur einem breiteren Publikum zugänglich machten. Die Werke des Aristoteles hatten dabei höchste Priorität.

Das alles soll eben nicht den Beitrag des arabischen Transfers nichtig reden. Es geht aber um „Schicksalsmäßigkeit“. Bagdad und Toledo waren nicht alleine für die Wiederentdeckung verantwortlich; und es mutet reichlich merkwürdig an, diese Monopolstellung immer wieder zu verteidigen, so, als nähme sie jemanden etwas weg. Es muss aber klar gemacht werden, dass, hätten die Europäer nicht die maurische Korrespondenz gehabt, sie andere Mittel und Wege besaßen. Es handelt sich hier um ein „sowohl als auch“ statt eines „entweder oder“.

Außer natürlich, man kann schlecht damit leben, wenn eine gewisse Volksgruppe ihr Alleinstellungsmerkmal verliert. Das sind hier aber mit Sicherheit nicht die europäischen Völker.

Teilen

«
»