Udo Di Fabio

14. Mai 2016
Kategorie: Antike | Europa | Freiheit | Historisches | Ich bin Guelfe, ich kann nicht anders | Italianità und Deutschtum | Philosophisches

Kürzlich besuchte ich einen Vortrag Udo Di Fabios zum Thema „Kulturelle Identität und Einwanderung“. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter war erst kürzlich von Justizminister Heiko Maas als „geistiger Brandstifter“ bezeichnet worden, da der Jurist festgestellt hatte, dass sich die Bundesregierung bei der Öffnung der Grenzen außerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegt habe.

Di Fabio konzentrierte sich in seinem Beitrag auf mehrere Schlüsselaspekte: zuerst mit der Bedeutung der im Grundgesetz bezeichneten „Menschenwürde“; danach mit der historischen und geistigen Entwicklung hin zu eben jener grundgesetzlichen Prägung, auf der die Bundesrepublik steht; sowie mit den Unterschieden zwischen dem kontinentaleuropäischen Nationalstaat und den klassischen Einwanderungsländern. In einer einstündigen Fragerunde ergänzte der Professor der Rechtswissenschaften seinen rhetorisch wie inhaltlich brillanten Vortrag um einige gekonnte, wie auch unterhaltsame Oeuvres.

Man siehe dem Löwen nach, dass er sich keine Notizen machte, demnach nur grobe Linien nachzuzeichnen vermag. Die Schwerpunkte hoffe ich jedoch erfasst und mir gemerkt zu haben.

Bezüglich der im Grundgesetz verankerten Menschenwürde stimmte der Jurist zwar der „universellen“ Deutung zu, nämlich, dass diese in der Tat ein Bekenntnis zu deren Wahrung auch im globalen Rahmen sei. Die Bundesrepublik Deutschland habe sich 1949 zu den universellen Menschenrechten bekannt, und natürlich dies in Erwartung einer irgendwann von der ganzen Welt gekennzeichneten Verbindung aus Nationalstaaten westlich-demokratischer Prägung. Im Bewusstsein dieser Verpflichtung zur Wahrung der Menschenwürde sei aber zu beachten, dass diese vor allem auf das Territorium gerichtet sei, in der das Grundgesetz gelte: also innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland.

Die Verabsolutierung der Menschenwürde sei höchstens „Erstsemestern“ würdig, welche mit diesem Totschlagargument jeden Paragraphen des Grundgesetzes aushebeln könnten. Dies sei nicht der Fall. Die Achtung der Menschenwürde könne kaum dazu führen, dass der Staat eine seiner drei definierenden Größen (Staatsvolk, Staatsgewalt, Staatsgebiet) aufgäbe, die gerade als konstituierender Rahmen diene, um eben jene durchzusetzen. Außenpolitisch richtig betrachtet, habe die alte Bonner Republik den Aspekt der „Achtung der Menschenwürde“ immer dann erfüllt, wenn Deutschland im Ausland humanitär agierte und durch Verträge und Abkommen die Not der Menschen im Ausland gelindert habe.

An dieser Stelle hob Di Fabio auch die Wurzeln des Artikels 1 hervor. Denn obwohl im heutigen rechtlichen Rahmen natürlich auch Atheisten und Agnostiker diesen verträten, spiegele sich hier immer noch ein transzendenter Kern wieder. Ohne christliches Menschenbild sei die Entwicklung nicht zu verstehen; ausgehend vom Renaissance-Humanismus, über die Aufklärung hin zum verfassungsgebenden Staat des 19. Jahrhunderts habe sich dieser Nukleus zwar säkularisiert. Im Grunde spiegele sich aber in diesem die abendländische Tradition, das heißt, die bereits von antiken römisch-griechischen Philosophen vorgedachten Konzepte und die christliche Theologie wieder. Dessen sollte man sich bewusst werden; die Krise Europas – so unterstrich Di Fabio nicht nur einmal – hänge stark mit der Selbst- bzw. Geschichtsvergessenheit des Kontinents zusammen. Nur die Pflege des jüdisch-christlichen und antiken Erbes könnte Europa für die Zukunft stärken; die Wurzeln bedürften immer wieder frischen Humus‘.

In der nachfolgenden Fragerunde brachte es Udo di Fabio folgendermaßen auf den Punkt: „Wer damit argumentiert, dass bestimmte Rechtsvorstellungen aus dem 19. Jahrhundert stammten, und deshalb heute keine Bedeutung hätten, irrt. Nicht nur Nationalgrenzen, sondern auch der ganze Verfassungsstaat, auf dem überhaupt erst die Menschenwürde fußt, mit der man argumentiert, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Die Aufklärung, auf der unsere säkulare Gesellschaft fußt, stammt sogar aus dem 17. und 18. Jahrhundert! Der Renaissance-Humanismus mit seinem Menschenbild datiert noch früher! Was also ist das für ein Argument? Es ist – richtig betrachtet – überhaupt kein Argument, nur etwas zu kritisieren, weil es alt ist.“

Bei der Forderung nach einer Einwanderungsgesellschaft, die seit Monaten ausgerufen würde, hob Di Fabio die „Härte“ der Einwanderungsländer hervor. Allen voran die USA seien nicht nur wenig zimperlich gegen die frühere autochthone Bevölkerung vorgegangen; sie hätten ebenso viel von den Neuankömmlingen gefordert. So hätten die Neuzuwanderer zwar kulturelle und religiöse Toleranz genossen, aber bis zu den jüngsten Reformen unter Obama hätten die USA als klassisches Einwanderungsland keine sozialen Hilfen, keine Versicherungen besessen. Einwanderungsländer seien traditionell schlanke Staaten. Eine Einwanderungsgesellschaft fordere mehr als zu fördern. Im Rückblick auf Deutschland bedeutete das eine zweite Agenda 2010, die einen massiven Rückbau des deutschen Sozialstaates zur Folge haben müsste.
Nicht ohne Ironie merkte der ehemalige Verfassungsrichter an, dass vermutlich deswegen die Stimmen bezüglich einer Transformation zu einem Einwanderungsland in jüngerer Zeit wieder stiller geworden seien.

Die unter den amerikanischen Demokraten verbreitete Ansicht, die USA derzeit zu „europäisieren“, also nach den Prämissen der hierzulande existierenden Sozialstaaten umzuwandeln, könnte ungeahnte Folgen für den gesamten amerikanischen Kontinent haben. Besonders aus diesem Grund sei der Protest gegen die Gesundheitsreform Obamas auch so heftig ausgefallen. Üblicherweise suchten sich klassische Einwanderungsländer ihre Einwanderer sehr genau aus, um jedem Missbrauch vorzubeugen.

Zudem fügte der Bonner Professor hinzu, dass in klassischen Einwanderungsländern die innere Sicherheit eine besondere Rolle spiele. In der Fragerunde unterstrich er: das sei nicht „rechts“, sondern realpolitische Logik. Immigranten legten hohen Wert auf Sicherheit, besonders gegenüber den anderen Zugewanderten. Schließlich seien gerade Einwanderer aus instabilen Gebieten an Recht und Ordnung interessiert. Die staatliche Gewalt diene der Einhegung von Konflikten. Welche Menschenwürde hätte schon Bestand, wenn nicht diese auch zwischen Einwanderungsgruppen durchgesetzt werden könne? Ein Staat, der seine eigenen Gesetze nicht durchsetze, mache sich anfällig für den Unmut von Autochthonen wie auch Immigranten. In der Fragerunde fügte Di Fabio hinzu, dass es grotesk sei, dass man kein Geld für Justiz und Polizei ausgäbe, sondern lieber über höhere Renten abstimme: „Was nützt denn der Großmutter die höhere Rente, wenn sie um ihr Leben fürchten muss?“

Bei einer Meldung aus dem Publikum fragte einer der Zuhörer, ob Deutschland denn nicht sehr gute Erfahrungen mit Einwanderung gemacht hätte: so mit den Hugenotten, den Polen im Ruhrgebiet, mit Mussolinis Italienern in Wolfsburg und den Gastarbeitern. Di Fabio – selbst ein Kind des Ruhrgebiets – entgegnete, dass auch er als junger Mann gedacht hätte, dass die „neuen Einwanderer“ mit Kopftuch sich so wie die Italiener, Polen u. a. integrieren würden, nach 20 Jahren würden sie dann wie die Kowalskys und Luigis sein, für Schalke oder Borussia halten und Currywurst essen. Käme er heute in seine Heimat, würde er diese aber nicht wiedererkennen. Zudem seien alle die genannten Einwanderungen geplant, kontrolliert und nach Kosten-Nutzen-Rechnung gelaufen. Keiner der genannten historischen Fälle könnte mit der jetzigen Situation verglichen werden.

Insbesondere aber sah Di Fabio eine Gefahr in der allgegenwärtigen Meinungsführerschaft einer bestimmten Gruppe, die andere ausgrenze und Probleme nicht ansprechen wolle.

Man siehe mir nach, wenn ich an dieser Stelle nur die Perlenstücke hervorhebe. Man kann sich jedoch vorstellen, warum einem Maas in Berlin der Kopf raucht. Di Fabios Äußerungen waren nicht nur an einigen Stellen von solcher intellektuellen Tiefe, dass man für zwei abendliche Stunden das akademische Wesen noch für rettbar hielt, sondern auch von solcher Prägnanz und rhetorischer Fulminanz, dass dagegen jeder Schnappatmer der Quantitätsmedien, politischer Gruppierungen und – leider auch – religiösen Verbände wie ein kleines Teelicht im Angesicht eines strahlenden Martinsfeuers wirkte.

Insofern ein geistiger Brandstifter im besten Sinne. Di Fabio löste ein Gedankenfeuerwerk aus.

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