In seinem Ritratto delle cose della Magna (allgemein als „Politischer Zustand Deutschlands am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts“ wiedergegeben) schreibt Niccolò Machiavelli unter Anderem:
An der Macht Deutschlands darf niemand zweifeln; denn es hat Überfluss an Menschen, Reichtümern und Waffen. Was die Reichtümer betrifft, so gibt es keine Stadt, die nicht einen öffentlichen Schatz hätte; und jedermann sagt, Straßburg allein besäße einige Millionen Gulden. Dies kommt daher, dass sie keine anderen Ausgaben haben, die ihnen das Geld aus der Hand ziehen, als die für Unterhaltung ihrer Verteidigungsmittel und Vorräte. Wenn aber die erste Anschaffung einmal gemacht ist, so kostet sie die Erneuerung nicht viel. Sie haben in dieser Hinsicht eine sehr schöne Einrichtung. Ihre öffentlichen Vorratskammern sind immer mit Lebensmitteln, Getränken und Brennholz für ein Jahr gefüllt; ebenso haben sie Rohstoffe zur Verarbeitung, um bei einer Belagerung die Menge, die von ihrer Hände Arbeit lebt, ein ganzes Jahr lang ohne Verlust der Stadt ernähren zu können. Die Soldaten kosten sie nichts, weil die Bürger bewaffnet und in Übung gehalten werden. An Festtagen übt sich die ganze männliche Bevölkerung, statt zu spielen, mit der Büchse, mit der Pike, mit dieser oder jener Waffe, wobei sie dem Geschicktesten Ehre erweisen und Preise austeilen, die sie dann miteinander verjubeln. Für Besoldungen und dergleichen geben die Städte wenig aus. So ist heute jede Stadt als Gemeinwesen reich.
Der Grund, warum die Einzelnen des Volkes reich sind, liegt darin, dass sie ärmlich leben. Sie bauen nicht, sie machen keinen Aufwand für Kleider, sie verschwenden nichts für Hausgeräte. Es genügt ihnen, Überfluss an Brot und Fleisch und eine geheizte Stube zu haben, wo sie sich vor der Kälte schützen können. Wer weiter nichts hat, lebt ohne die anderen Dinge und strebt nicht danach. Auf ihren Leib verwenden sie zwei Gulden in zehn Jahren.* Jeder lebt nach seinem Rang in diesem Verhältnis, und keiner veranschlagt, was er entbehrt, sondern nur, was er notwendig bedarf, und ihre Bedürfnisse sind viel geringer als die unsrigen.
Die Folge dieser ihrer Sitten ist, dass kein Geld aus ihrem Land geht, da sie mit dem zufrieden sind, was es erzeugt. In ihr Land kommt immer Geld, das von denen dahin gebracht wird, die die Erzeugnisse ihres Kunstfleißes haben wollen, mit denen sie fast ganz Italien versehen. Ihr Gewinn ist umso größer, weil der größte Teil dessen, was sie verkaufen, in Manufakturwaren besteht und durch die Handarbeit seinen Wert erhält, ohne dass sie irgendeines bedeutenden Kapitals als Auslage bedürfen.
So erfreuen sie sich ihres Lebens und ihrer Freiheit, und wollen aus dieser Ursache nicht in den Krieg ziehen, wenn sie nicht überbezahlt werden. Auch dies würde sie noch nicht bewegen können, wenn sie nicht von ihren Städten den Befehl erhielten. Ein Kaiser bedarf daher viel größerer Summen als ein anderer Fürst; denn, wenn es den Menschen gut geht, ziehen sie ungern in den Krieg.
[…]
Bei diesem Bericht ist natürlich Vorsicht angebracht. Erstens, weil Machiavelli nur die süddeutschen Gebiete kannte, was sein Bild nachhaltig prägte; und zweitens, weil der Florentiner damals in seiner Heimat eine Stellung innehatte, die einem Verteidigungsminister recht nahe kam. Hier liest sich daher auch ein politisches Programm, das typisch für Machiavelli ist: Bevorzugung der Wehrpflicht gegenüber dem Söldnerwesen, Betonung des Militärischen im Alltag und Glorifizierung der Deutschen Freiheit (heißt: Unabhängigkeit).
Forscher sehen gerne eine Vielzahl von „deutschen Stereotypen“, die sie auf die Germania des Tacitus zurückführen. Typische Topoi bilden die deutsche Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und die Neigung zum Bier, sowie nicht zuletzt die Kontrastierung der Germanen/Deutschen mit den dekadenten Römern/Italienern.
Ich wage dem zu widersprechen. Freilich hatte der 1455 wiedergefundene Bericht Auswirkung auf den italienischen Humanismus. Allerdings kann man Machiavelli nur sehr begrenzt dem Humanismus zuordnen. Er verkehrte nicht in den klassischen humanistischen Zirkeln. Es ist nicht einmal sicher, was er überhaupt an antikem Schriftgut kannte und rezipierte. Schlüssig nachgewiesen werden kann nur der Privatunterricht, den sein Vater Bernardo initiierte, und Umgang mit Büchern aus der heimischen Privatbibliothek. In der fanden sich freilich zwar Boethius, Cicero und Machiavellis Lieblingsautor Titus Livius; aber wenn schon umstritten ist, ob Machiavelli Thukydides oder Polybios kannte, so darf der Kontakt mit der Germania (einer neu aufgetauchten, für damalige Verhältnisse „exotischen“ Schrift) infrage gestellt werden.
Ganz abgesehen davon, dass die Deutschen weitaus weniger wild als die Germanen auftreten. Eher etwas selbstzufrieden und gemütlich. In den Krieg ziehen? Nur, wenn’s sein muss…
Stattdessen ist das Vorurteil der Italiener gegenüber den Deutschen, sie kleideten sich schlecht und besäßen keine Eleganz – keine genuin taciteische Erfindung. Das höre ich bis heute genug in Italien. Und schwäbische Sparsamkeit – wie erwähnt, Machiavelli war besonders dort unterwegs – enthält auch einen Funken Wahrheit. Im besten Sinne erscheinen schon um 1500 die Deutschen als sparsam, aufs Wesentliche bedacht, bodenständig und auch etwas – nun ja – tumb. Hauptsache genug Brot und Fleisch daheim, statt raffinierter italienischer Küche. Handwerklich begabt, und wenig vom Import abhängig: das meint Machiavelli damit, wenn er sagt, dass das Geld im Land bleibe, stattdessen sogar noch etwas aus dem Ausland komme.
Kurz: für Machiavelli war Deutschland schon um 1500 Exportweltmeister.
Alles nur Klischees, politisches Programm oder Germania-Anklang? Ich glaube nicht.
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*Machiavelli meint hiermit die Kleidung.