Tirol auf dem Opferaltar der Willkommenskultur

11. April 2016
Kategorie: Europa | Freiheit | Historisches | Italianità und Deutschtum | Machiavelli | Medien | Mittelalter | Non enim sciunt quid faciunt | Regionalismus | Venedig

Es sind harte Tage für Regionalisten. Nachdem erst kürzlich das Elsass und seine Nachbarregionen namentlich von der europäischen Landkarte verschwanden, trifft es nun ein anderes Feld des europäischen Regionalismus: Tirol.

Die Landschaft am Brenner war schon immer eine eigenwillige Ansammlung von Besonderheiten. Die Grenze zwischen dem romanischen und germanischen Kulturkreis besitzt historisch einige Besonderheiten, welche das Verhältnis der dort lebenden Völker verkompliziert. Das beginnt schon mit der Anfangsfrage, wo Tirol beginnt und wo es aufhört; das wird spätestens am Trentino deutlich, dem Gebiet zwischen nördlichem Gardasee und Salurner Klause.

Das Trentino ist traditionell italienischsprachig, der dortige Dialekt kann dabei jeweilig dem Lombardischen und dem Venetischen zugeordnet werden; dazu existiert eine ladinische Minderheit. Zweifelsfrei waren die dort lebenden Menschen immer mehr von der südlichen Kultur beeinflusst; andererseits gab es zahlreiche Verbindungen zur nördlich liegenden Grafschaft Tirol. Trient war einst ein Fürstbistum, und der herrschende Bischof mal Italiener, mal Deutscher, je nach der politischen Konstellation und der Abhängigkeit von den Habsburgern. Pikanterweise gehört zu diesem Stift Trient und damit dem weltlichen Machtbereich auch eine Vielzahl von deutschsprachigen Gebieten des heutigen Südtirols; die Salurner Klause – die Sprachgrenze – spielte dazumal noch keine Rolle.

Im Zuge des Erstarkens der Tiroler Grafen konnten diese ihren Machtbereich nach Süden ausweiten. Die Grafen wurden Vögte des Bischofs, heißt, deren Beschützer. Auffällig wird diese Verflechtung an der gemeinsamen Armee: die Grafschaft Tirol und das Fürstbistum stellten ihre Männer gemeinsam auf, wenn man gegen äußere Feinde – bspw. der Republik Venedig im 15. Jahrhundert – Widerstand leistete. Spätestens jedoch als die Habsburger den Tiroler Grafenthron besetzten, gerieten die Bischöfe von Trient in eine immer größere Abhängigkeit. Gebiete des Fürstbistums fielen nunmehr an die Grafschaft, und von der Republik Venedig zurückeroberte Territorien (so Rovereto und Tesino) fielen nicht zurück an Trient, sondern an Tirol.

Trotz dieser absehbaren Schwäche hatten die Bischöfe von Trient immer wieder ihre Unabhängigkeit behauptet. Auf den Reichstagen galten sie nach den drei Erzkanzlern (Mainz, Trier, Köln) und Salzburg als wichtigste Vertreter der Geistlichkeit und als Bindeglied zur römischen Kurie. Nicht selten fungierten die Trentiner Bischöfe als Berater des Kaisers. Insbesondere die Madruzzo-Dynastie, die den Bischofsthron lange besetzt hielt, hatte einen besonderen Einfluss auf die mitteleuropäische und italienische Diplomatie – unter der Leitung dieser Familie fand auch das berühmte Konzil von Trient statt.

Das eigentliche Tirol hatte indessen schon zuvor unter Maximilian I. eine herausragende Stellung genossen, da Innsbruck als eine der liebsten Residenzorte des Kaisers galt. Nicht zuletzt, da es sich strategisch günstig zwischen den eigenen Erblanden und den reichen süddeutschen Städten befand. Innsbruck lag mittig auf der Hauptroute zwischen Verona und Augsburg, jener alten Pilgerroute, die direkt nach Rom führte, sowie die Handelswege mit dem Hafen Venedig verband. Auf derselben Straße konnte man nach Nürnberg reisen, dem „Schatzkästelein“ des Reiches, oder Frankfurt, wo die Wahlen zum Römisch-Deutschen König stattfanden. In Augsburg residierten dagegen die Fugger, bei denen Maximilian mit seinen Krediten in der Kreide stand. Der Kaiser war berüchtigt für seine Großzügigkeit (Machiavelli dagegen sprach eher von Verschwendungssucht). Damit war Tirol wieder von doppeltem Interesse, denn die Berge waren reich an Silber und anderen Erzen. Obwohl von Bergen zerklüftet, galt Tirol als eines der wohlhabendsten Territorien des damaligen Habsburgerreiches.

Die gesamte Frühe Neuzeit hindurch bestand ein wechselvolles Spiel zwischen Tirol und Trient, welches die Deutschen „Welschtirol“ nannten. Seit dem 19. Jahrhundert sind die „Welschen“ im Deutschen fast ausschließlich Franzosen; in der Tat handelte es sich aber im germanischen Raum zuerst um eine prinzipielle Unterscheidung zu den romanischen Völkern. So bezeichnete man auch Verona als Welschbern, das als eigentliche Pforte zu Italien galt. Einige „Welsche“ des Trentino standen auch ganz explizit aufseiten des österreichisch-kaiserlichen Hauses, so im Dreißigjährigen Krieg als Generäle oder als Berater am Hof. Für die Trentiner spielte auch die Sprachzugehörigkeit keine Rolle, als man sich ebenso Andreas Hofer anschloss wie auch die weiter nördlich lebenden Tiroler.* Im Übrigen war diese Rebellion der Grund für Napoleon, Trient und Bozen (!) dem französisch kontrollierten Königreich Italien zuzusprechen.

Tirol

Schicksalsträchtig wurde die Angelegenheit aber erst, als es im Zuge der Jahre 1803 bis 1806 erst zur Säkularisierung und anschließend zur Auflösung des Reiches kam. Österreich annektierte das aufgehobene Stift Trient, welches damit dasselbe Schicksal ereilte wie alle geistlichen Reichsterritorien; Salzburg und Brixen erging es ähnlich. Das Trentino wurde offiziell Teil der Grafschaft Tirol (und später des Kronlandes Tirol). Dieser Zug sollte sich als verhängnisvoll erweisen. Im Jahrhundert des Nationalismus erkannte man nämlich nicht mehr das Verbindende, sondern nur noch das Trennende. Nicht nur italienische Irredentisten, sondern auch ganz spezifisch trentinische hatten maßgeblichen Anteil an den vielen Fehden, die um den Landstrich zwischen Gardasee und Brenner geführt wurde. Fairerweise sei dabei gesagt, dass ursprünglich wieder die Salurner Klause als Grenze eines italienischen Nationalstaates anvisiert wurde.

Das Trentino wurde zum Zankapfel, und blieb es auch nach den Kriegen von 1848, 1859 und 1866, in denen die italienische Nationalbewegung mit wechselndem Erfolg gegen die Habsburgermonarchie kämpfte. Für den Großteil der Nationalisten blieb das Trentino das größte Hindernis zur Versöhnung mit dem österreichischen Erzfeind. Gerade das Deutsche Kaiserreich hatte dabei Interesse an einem italienisch-österreichischen Ausgleich, um den seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geltenden Dreibund zu stärken. Dabei erwies sich die Tirolfrage vermutlich als das Übel, welches diese Koalition im Ersten Weltkrieg auseinanderbrechen ließ. Italien hatte bereits die österreichische Balkanexpansion in Bosnien akzeptiert, und begrüßte auch eine Annektierung Serbiens, wenn man zur Kompensation eben das Trentino abträte. Deutschland stimmte dem zu, in der Hoffnung, Italien im Dreibund zu halten und möglicherweise gegen Frankreich zu gewinnen; Österreich dagegen ging auf keinerlei Handel ein, was Italien in der Ansicht bestärkte, aufseiten der Entente gegen die Mittelmächte in den „Großen Krieg“ einzutreten. Dabei machten bereits Frankreich und Großbritannien den Italienern den Eintritt dadurch schmackhaft, dass man die Grenze von der Salurner Klause bis zum Brenner ausweitete. Damit sollten Meran, Brixen und Bozen – seit dem Mittelalter durchgehend deutschsprachige Territorien – aus strategischen Gründen an Italien fallen, um vom Alpenkamm die Neueroberungen besser verteidigen zu können.

Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie fielen Trient und das südliche Tirol an Italien. Die Rollen waren nun umgekehrt. Über ein Jahrhundert hatte das kleine italienische Trentino zu Österreich gehört, nunmehr sollte das gänzlich deutsche Südtirol unter italienisches Statut fallen. Auf die Befindlichkeiten der Kulturen wurde keine Rücksicht genommen; der Brenner, der immer eine Verbindung, und nie eine Grenze gebildet hatte, sollte nunmehr mit Festungen und Minen besetzt werden. Mit dem italienischen Faschismus begannen dann die Versuche der Italianisierung. Südtirol ist auch ein Beispiel dafür, wie wenig territoriale Expansion für die Nationalsozialisten bedeutete, wenn die Ideologie außenpolitisch nicht opportun erschien. So, wie Ribbentropp mit Molotow einen Nichtangriffspakt schließen konnte, um anschließend Polen zwischen der Sowjetunion und Deutschland aufzuteilen, hatte Hitler keine Skrupel, Südtirol an Mussolini preiszugeben und alle Ansprüche darauf fallenzulassen. Stattdessen kam es zur sog. „Option“, der erzwungenen „Möglichkeit“ der deutschsprachigen Tiroler, ihr Heimatland zugunsten des neuen Großdeutschen Reiches zu verlassen. Die Südtiroler sollten später auf der Krim angesiedelt werden.

Erst das Ende des Zweiten Weltkrieges, das Autonomiestatut der Region Trentino-Südtirol und das Zusammenwachsen der EWG bzw. EU, einhergehend mit der Grenzöffnung zwischen Italien und Österreich sollte es wieder möglich machen, dass Tirol, obwohl administrativ und politisch in drei Teile zerteilt (das kleine Osttirol um Lienz soll hier nicht vergessen werden), zumindest wieder gefühlt als geistige Einheit zusammenwuchs. Klar, es läuft und lief auch nicht immer gut. Aber im Gegensatz zu Katalonien besitzt Südtirol wenigstens Autonomie. Und im Gegensatz zum Elsass nicht nur Autonomie, sondern wenigstens noch einen eigenen Namen. Es gäbe eine ganze Reihe weiterer Regionen, für die das gilt.

Was das Ziel eines geeinten und freien Tirols nicht weniger edel, aber im Moment eben weniger zwingend macht.

Umso aufmerksamer sollte man stattdessen verfolgen, wie die Migrationskrise auch auf das Zusammenleben der ansässigen Völker und ihre Regionen Einfluss nimmt. Mit der Sperrung der Brenner-Grenze nimmt nämlich eine Idee Kontur an, welche im Bundeskanzleramt schon ihre Runde machte. Dort hatte Merkel bereits kundgetan, dass man im Zuge einer möglichen Verlegung des Migrantenstroms auf die Italienroute eben warte, bis Österreich diesen Schritt unternehme. Schon dazumal wurden Gerüchte laut, Italien aus dem Schengenraum zu werfen. Nicht etwa Deutschland, das die Migranten gerufen hat, muss also seine Fehler ausbaden. Wieder einmal wird Tirol zerteilt und den Machtinteressen der Großen geopfert. Weil Deutschland seine Grenzen nicht dichtmachen und ein „hässliches Gesicht“ zeigen will, und weil Merkel sich einfach nicht von ihrer katastrophalen EU-Politik distanzieren möchte, wird Tirol auf dem Altar der Willkommenskultur dargebracht.

Die Probleme Deutschlands? Horror-Staus! Das sind die Schlagzeilen der Bild-Zeitung. Davon, dass bald auf der anderen Seite Zeltstädte von Merkelgerufenen das schon so oft geschundene Tiroler Land heimsuchen, davon hört man hier wenig. Es stehen wieder Soldaten am Brenner. Die Verantwortlichen dafür sitzen nicht in Wien und Rom. Italien hatte schon vor Jahren eine europäische Allianz für das Mittelmeer vorgeschlagen, oder wenigstens Finanzmittel dafür gefordert, um effektiv die Krise zu bekämpfen. Berlin hat das bereits damals nicht als eigenes Problem erachtet. Was Österreich hier tut, tut es dagegen notgedrungen. Man kann nicht von einem kleinen 9 Millionen-Land verlangen, dass es als Fußmatte seinem 80 Millionen dicken Nachbarn dient.

Deutschland spricht immer dann von europäischen Lösungen, wenn das Wasser bis zum eigenen Hals steht. Dahinter verbirgt sich aber nicht weiter als die schlimmste nationale Politik, die man sich vorstellen kann: egoistisch, weltfremd und missionarisch.

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*Hofer wandte sich auch ganz explizit in einem Aufruf an die tirolesi italiani tanto amati.

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