Das Thema flatterte durch Zeitungen, hallte im Radio, spiegelte sich im Fernsehen, und verirrte sich auch in die nachbarlichen Blogs. Was war geschehen? Margot Käßmann, Ikone der Evangelischen Kirche und „Lutherbotschafterin“ für das kommende Reformationsjubiläum 2017, hatte wieder einen ihrer legendären Auftritte: den Terroristen wolle sie mit Liebe begegnen.
„Jesus hat eine Herausforderung hinterlassen: Liebet eure Feinde! Betet für die, die euch verfolgen!“, so Käßmann in der „Bild am Sonntag“. „Für Terroristen, die meinen, dass Menschen im Namen Gottes töten dürfen, ist das die größte Provokation. Wir sollten versuchen, den Terroristen mit Beten und Liebe zu begegnen.“
Sie gibt zu, dass eine solche Reaktion schwierig sei. „Ja, eine solche Haltung wird belacht und sie wird auch viele Menschen überfordern. Weil es der menschliche Instinkt ist, Rache zu üben. Aber auf den Hass nicht mit Hass zu antworten, das ist die Herausforderung“, sagt sie. Sie fügt hinzu, dass die größten Persönlichkeiten der Geschichte wie Martin Luther King oder Gandhi nicht mit Gewalt reagierten.
Auf die Frage, ob man nicht manchmal töten müsse, um Schlimmeres zu verhindern, sagt sie, dass (sic!) sei „die Logik der Macht“. Sie glaube, dass derjenige, der den Kreislauf der Gewalt durchbreche, am Ende der Mächtigere sei. So wie Jesus, der nicht zum Schwert gegriffen habe. Auf die Entgegnung, dass Millionen Menschen gerettet worden wären, wenn Hitler frühzeitig getötet worden wäre, sagt sie: „Millionen Menschen wären gerettet worden, wenn sich alle Christen Hitler und dem Holocaust entgegenstellt hätten.“
Der kleine Machiavelli, der bekannterweise dem Löwen stets im Ohr sitzt, musste natürlich bei seiner unumgänglichen Erwähnung kichern. Der fügte im Übrigen hinzu, dass den Terroristen mitnichten – wie oftmals kolportiert – das Ziel von Angst und Schrecken das erstere sei; sondern vielmehr, möglichst viele Menschen umzubringen, womit die Täter bereits Erfolg hatten. Ob daher gemeinsames Beten tatsächlich „Provokation“ sei, das stellt der Cheflogiker der Macht einmal mehr in Frage.
Doch genug davon.
Unweigerlich ist bei diesem Diskurs wie so oft die Frage danach entbrannt, was Christen dürfen, und ob unter den Feinden auch Terroristen subsummiert werden können. Man hat so den Eindruck, dass bei der um sich greifenden Wattebauschentchristianisierung jeder Gedanke, der nur entfernt mit Gewalt zu tun haben könnte, absolut unchristlich ist. Allerdings: was die andere Wange angeht, so halte ich es da ausnahmsweise mit Andreotti. Denn ehrlich gesagt habe ich nie verstanden, wie sich heutige als Oberchristen aufspielen können, und damit automatisch Generationen von Christen verdammen, die im Mittelalter und der Frühen Neuzeit im Mittelmeer für den Glauben starben. Alles Idioten, die nichts verstanden haben? Aber Käßmann und Konsorten haben den Durchblick?
Ich zweifle daran. Ganz abgesehen davon, dass jemand wie Käßmann, die ganz öffentlich zugibt, elementare Dogmen des Credo abzulehnen, für mich definitiv weniger den Anspruch erheben dürfte, als Christin zu sprechen als ein mehrmals versklavter Malteserkreuzritter. Ja, ich lehne mich da weit aus dem Fenster.* Auch solche Unbedachtheiten käßmann’scher Prägung sind in Zeiten der relativistischen Dekadenz salonfähig, indessen Glaubenskriege per se pfui-bah sind.
An dieser Stelle einige Worte zu meiner Person: ich bin womöglich nicht der beste Katholik, und mein Studium der Katholischen Theologie bemisst sich auch nur auf zwei Semester; andererseits habe ich noch auf dem Gymnasium sowohl Latein als auch Griechisch gelernt. Das hat den Vorteil, zu den Quellen vorstoßen zu können; im Übrigen weiß jeder Historiker aus leidiger Erfahrung, dass nahezu jede hitzig geführte Diskussion eben daraus entsteht, dass irgendjemand mal wieder nicht den Text gelesen hat.
Mein Ansatz ist weniger ein theologisch-moralischer, als vielmehr ein (alt)philologisch-historischer. Heißt: sehen wir uns einfach mal das an, was Jesus im Original gesagt hat. Ich beziehe mich auf Lukas 6:27.
Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen.
Das sieht zuerst einmal eindeutig aus. Einzig: auch der Bibeltext ist und bleibt eine Übersetzung des Griechischen Originals.
Bevor wir daher unser Graecum auspacken, ein paar Dinge vorab. Wie ich schon bei Marc Aurel immer wieder ausgeführt habe, sind viele Worte der Antike mit unseren Wortbedeutungen nicht immer identisch. Daneben kommen noch zusätzliche Feinheiten hinzu, die oftmals eine weitaus präzisere Wiedergabe ermöglichen, wozu die deutsche Sprache in dieser Hinsicht oftmals nicht fähig ist. Es ist eine seltene Ironie der Sprachgeschichte, dass das Deutsche hervorragende Präzision bei einer Ingenieursanleitung aufweist, aber insbesondere im sozialen Bereich ab und an nur mittelmäßig abschneidet.
Bestes Beispiel in meiner Erfahrungswelt ist das Wort „Freund“. Beinahe hätte ich einen Dritten Weltkrieg heraufbeschworen, als ich eine junge Frau fragte, ob der junge Mann an ihrer Seite ihr „Freund“ sei, allerdings nur mit der reinen Intention der Freundschaft. Das sorgte jedoch beim Gegenpart für heftige Reaktionen, er sei nicht „ihr Freund“, worauf ich zuletzt fragte, was denn dann. Ja, „ein Freund!“.
Im Italienischen hat sich für die Konnotation des „festen Freundes“ das Wort „fidanzato“ (ursprünglich nur für Verlobte) durchgesetzt, statt des normalen „amico“; ähnliches kennt das Spanische beim Wort „novio“ statt „amigo“.
Insgesamt weiß das Deutsche beim Begriffsspektrum „Liebe“ und „Hass“ selten zu differenzieren. Kennen das Griechische und das Lateinische je drei Worte bzw. Formen der Liebe, so muss sich das Deutsche mit einem einzigen Wort begnügen. Die alten Sprachen kannten: Eros/Amor (die sexuelle Liebe), Agape/Caritas (die fürsorgliche Liebe bzw. Nächstenliebe) und die Philia/Amicitia (Freundschaft). Natürlich waren auch hier die Regeln und Begriffe nicht absolut festgezurrt, aber es soll zumindest Uneingeweihten eine gewisse Vorstellung davon geben, dass in den Alten Sprachen Abstufungen und Kategorisierungen zutrafen, die wir heute linguistisch nur durch Umschreibungen wiedergeben.
Ähnlich verhält es sich bei Hass und damit unseren Feinden. Die alten Sprachen kennen mindestens zwei verschiedene Feindesgruppen: den Echthros (lat. Inimicus), den persönlichen Feind, dessen Verhältnis sich vor allem aus zwischenmenschlichen Problemen ergibt, seltener auch aus innenpolitischen Motiven. Es handelt sich dabei um „innere“ Fehden, die man mit jemanden führt.
Daneben steht der Polemios (lat. Hostis), der „äußere Feind“, der außerhalb der jeweiligen Gemeinschaft steht. Bereits im Griechischen Wort selbst findet sich die Wurzel zu „polemos“, also Krieg.
Mit diesem Vorwissen blicken wir nochmals auf den Text im Griechischen des Neuen Testaments:
Ἀλλὰ ὑμῖν λέγω τοῖς ἀκούουσιν Ἀγαπᾶτε τοὺς ἐχθροὺς ὑμῶν, καλῶς ποιεῖτε τοῖς μισοῦσιν ὑμᾶς
Ich setze keine Griechischkenntnisse voraus, habe daher das entsprechende Wort markiert; es handelt sich unverkennbar um Echthros.** Man mag nun argumentieren, dass man nicht beide Begriffe verwenden konnte, daher nur den einen nahm, um damit allgemein von „Feinden“ zu sprechen. Allerdings scheinen auch die antiken Übersetzer genau diese Interpretation als „persönlicher Feind“ übernommen zu haben, denn ansonsten fänden wir nicht in der Vulgata Folgendes:
sed vobis dico qui auditis diligite inimicos vestros benefacite his qui vos oderunt
Mir geht es dabei weitaus weniger um die Feststellung, dass hier “nur” der persönliche Feind genannt wird, als vielmehr, dass zum Polemios, also dem äußeren Feind, nichts gesagt wird. Man kann höchstens von einer Interpretation oder womöglich Suggestion sprechen, aber meines Erachtens gibt die Stelle kaum einen universalmoralischen Anspruch her, der Jesus die Worte in den Mund schiebt, man müsse auch für Terroristen beten und sie lieben. Das kann man – wie gesagt – so interpretieren. Ich dagegen sage: für mich, persönlich, gibt das der Text jedenfalls quellentechnisch nicht her.
Wenn wir schon kurz Machiavelli und die Logik der Macht streiften, so geschah das nicht nur aus reiner Gelehrsamkeit; denn einer der gelehrigsten Schüler Machiavellis – Carl Schmitt – hat eben diesen Unterschied von Echthros und Polemios zum Grundsatz seines Freund-Feind-Schemas gemacht, das bis heute im gesellschaftlichen Thinktank der Rechts- wie Linksintellektuellen immer noch eine bedeutende Rolle einnimmt. Auch Schmitt hatte sich nämlich mit eben jener Stelle befasst, und sie als ausschlaggebend diagnostiziert; eben weil hier nicht der „politische“ Feind gemeint sei, hätten Christen nie ein Problem damit gehabt, Muslimen die Köpfe einzuschlagen. Kurz: kein Bischof oder sonstiger Geistlicher wäre auf die Idee gekommen, Europa „aus Liebe“ dem Islam auszuliefern.***
Der Löwe meint daher: was Käßmann da von sich gibt, ist eigenproduzierter Käse. Auf das Evangelium kann sie sich nur bei breitester Interpretation stützen, um ihre Ideologie – und die vieler anderer – noch in weiter Zukunft zu pflegen. Ich jedenfalls sehe nicht, dass Jesus dazu aufruft, Terroristen zu lieben wie sich selbst. Das mag irgendeine Käßmann-Religion sein, aber mit Sicherheit nicht das Christentum. Ganz einfach, weil nirgendwo im gesamten Evangelium überhaupt der Polemios vorkommt. Außenpolitik war einfach nicht Jesu Angelegenheit (so enttäuschend das auch für einige Pazifisten klingen mag). Auch Selbstgeißelungsaufrufe, wie sie einige Christen bringen, die wollen, dass man für einen Terroristen betet, erschließen sich mir daher ebenso wenig.
Im Übrigen wäre es mir neu, dass die himmlischen Heerscharen unbewaffnet sind…
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*Und füge hinzu, dass mir die Anzahl der besoffenen Galeerenkapitäne bei Lepanto, die über eine rote Ampel gefahren sind, und damit andere in Gefahr brachten – nicht bekannt ist.
**Als kleiner Bonus: hier wird im Übrigen auch eindeutig von „agapate“ gesprochen, also „nächstenlieben“, wie auch im Lateinischen von „diligete“ (eigentlich: sorgen für) die Rede ist; auch hier hat das deutsche Wort „lieben“ mal wieder so seine Nachteile.
***Im Übrigen stammt die Passage noch aus Schmitts Zeit vor der Machtergreifung, also bitte den Seiber etwas zurückhalten.