Der kleine paduanische Patriot

25. Februar 2016
Kategorie: Europa | Freiheit | Fremde Federn | Italianità und Deutschtum

Die folgende Erzählung entstammt dem Roman „Cuore“ (Herz) von Edmondo de Amicis. Sie ist frei gemäß dem italienischen Original von mir nacherzählt. Daher auch keine Kursive wie sonst üblich bei „Fremden Federn“, da man doch vermutlich eher meinen Stil als den von De Amicis wiederfindet.

Ein französisches Dampfschiff fuhr von Barcelona nach Genua; an Bord waren Franzosen, Spanier, Italiener und Schweizer. Unter ihnen weilte auch ein kleiner Junge von elf Jahren, schlecht gekleidet; er hielt sich von den anderen fern, wie ein wildes Waldtier, das seiner Umgebung misstrauische Blicke zuwarf, auf der Lauer vor Gefahren.

Er hatte allen Grund dazu: denn seine Eltern, die aus der Umgebung Paduas stammten, hatten ihn in ihrer Not vor zwei Jahren an eine Truppe fahrenden Volkes verkauft, als eine landwirtschaftliche Misere den ganzen Norden Italiens im Würgegriff hielt; der Anführer dieser zwielichtigen Gesellschaft hatte ihn mit Faustschlägen und Hieben zum Akrobaten geprügelt, war mit ihm quer durch Europa, durch Frankreich und Spanien gezogen, hatte ihn immer wieder gepeinigt, aber nie ein Stück Brot gegeben. Nach zwei Jahren gelang es dem Jungen in Barcelona, sich von dieser Tortur zu befreien, entrann den Schaustellern und suchte Zuflucht beim italienischen Konsul. Der hatte bei dessen Anblick solches Mitleid mit ihm, dass er dem kleinen Paduaner die Reise nach Genua finanzierte, und ein Schriftstück an die dortige Polizei ausstellte, dass man ihn zurück in seine venetische Heimat bringen solle.

Auf der Fahrt blieb der Junge ein miserabler Anblick. Die Striemen hatten sich in seine Haut eingegraben, den Rest seines Körpers verhüllten Lumpen. In der Zweiten Klasse ging er auf Distanz zu jedem, und manche behaupteten, er hätte sich seit seiner Ankunft nicht aus der Ecke getraut. Und wäre es nicht genug gewesen, so war er auch noch krank geworden. Mochte es an der schlechten Ernährung, oder aber an der Seefahrt liegen; er war kreidebleich und so elendig anzusehen, dass es schwer war, an ihm ungerührt vorbeizugehen.

Drei Männer, die keine Italiener waren, kam von einem Empfang der Ersten Klasse zurück, hatten noch ihre Weingläser in der Hand und stießen an, als sie den kleinen Jungen sahen. Vermutlich war es der Alkohol, der sie dazu trieb, das Lumpenbündel anzusprechen, nach seinem Namen oder seiner Herkunft zu fragen. Als der Junge nicht antwortete, meinte ein Passagier, dass dies völlig normal sei; viele hätten schon auf der Fahrt versucht, mit dem Kind zu sprechen, aber wie verstört schweige es dann immer wieder, wandte sich ab, verbarg das Gesicht in der Ecke oder tat so, als hätte es niemanden gehört. Die drei Männer zeigten sich aber unnachgiebig, und erst langsam begann der Junge in einem Gemisch aus venetischem Dialekt und Französisch etwas zu stammeln. Das amüsierte die drei besonders, weil der italienische Junge nicht einmal seine eigene Sprache richtig beherrschte, aber der Mischmasch aus Worten gefiel ihnen sehr. Und obwohl er nur sehr wenig sprach und manchmal nur unzusammenhängende Worte, so konnten sie ihn halbwegs verstehen; da erzählte der Junge von all seinem Leid und seiner Qual. In ihrer guten Laune spendierten die Herren dem Jungen ein paar Münzen, und als einige galante Damen in der Nähe spazieren gingen, zeigten sie sich noch großzügiger.

Für den Kleinen war sein Glück unfassbar; er stopfte die Silber- und Goldmünzen in die Tasche, und zum allerersten Mal nach Jahren zeigte sich in seinem Gesicht so etwas wie ein zaghaftes Lächeln.

Die Männer verschwanden wieder, und der Junge lehnte sich zurück, träumte von all den schönen Sachen, die er sich mit dem Geld kaufen konnte; besonders aber, dass nicht mit leeren Händen zu seinen Eltern zurückkehren würde, sie ihn womöglich so offenherziger aufnahmen, als in jenen Tagen, da das Brot bei ihnen knapp geworden war. Vielleicht – so dachte er sich – würde es nun tatsächlich besser, und er tröstete sich mit all den Gedanken, besonders aber jenen, dass er in Genua seine Lumpen gegen richtige Kleider tauschen konnte.

Später am Abend jedoch weckten ihn Schritte. Die drei Männer, die sich noch vor Stunden großzügig erwiesen hatten, standen an der Reling und erzählten von ihren Reisen. Sie kamen auf die vielen Länder zu sprechen, die sie besucht hatten, und nachdem das eine Gespräch das andere abgelöst hatte, kamen sie auf Italien zu sprechen. Der eine begann über die schlechten italienischen Hotels zu jammern, der nächste warf den italienischen Beamten vor, sie könnten weder lesen noch schreiben, der dritte klagte über die italienischen Eisenbahnen, bis sie zu dritt über all das schimpften, was mit Italien zusammenhing. Man hätte selbst Lappland als Reiseziel vorgezogen, in Italien gäbe es nur Lügner und Betrüger; die Italiener seien ein Volk von Dummköpfen, schmutzig und verkommen, von Die…!

Dieben wollte der letzte sagen, da prasselte ihnen eine Hagelschauer aus Silbermünzen gegen Rücken und Schultern, bevor sie plingend auf den Holzboden fielen. Kaum dass sie sich wütend umsahen, empfingen sie eine nächste Ladung Franken im Gesicht. Laut hallte ihnen die Stimme des Jungen entgegen, der noch vor wenigen Stunden kaum ein Wort hervorgebracht hatte.

»Nehmt Euer Geld zurück!«, schmetterte ihnen der Junge entgegen, der aufgestanden war, und sich ihnen entgegenstellte: »Ich nehme keine Almosen von Leuten an, die mein Land beleidigen!«

Teilen

«
»