Geschichte eines Gesetzes

14. Januar 2016
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Freiheit | Historisches | Ironie | Non enim sciunt quid faciunt

Auch als Volksverhetzungsparagraph bekannt, ist eine Beschäftigung mit den zahlreichen Revisionen seit dem Deutschen Kaiserreich aus historisch-ironischer Perspektive nicht unininteressant. Beschäftigen wir uns erst einmal mit den Quellen. Ich picke dafür fünf verschiedene heraus:

StGB § 130 im Jahr 1872:
§ 130. Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.

StGB § 130 im Jahr 1876:
§ 130. Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.

StGB § 130 im Jahr 1969:
§ 130. [1] Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er

1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt,
2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder
3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,

wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. [2] Daneben kann auf Geldstrafe erkannt werden.

StGB § 130 im Jahr 1975:
§ 130. 2Volksverhetzung. [1] Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er

1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt,
2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder
3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,

wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. 4[2] (weggefallen)

StGB § 130 im Jahr 2015:
§ 130. Volksverhetzung. (1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,

1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,

wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
3(2) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1. eine Schrift (§ 11 Absatz 3) verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder einer Person unter achtzehn Jahren eine Schrift (§ 11 Absatz 3) anbietet, überlässt oder zugänglich macht, die
a) zum Hass gegen eine in Absatz 1 Nummer 1 bezeichnete Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung aufstachelt,
b) zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen in Buchstabe a genannte Personen oder Personenmehrheiten auffordert oder
c) die Menschenwürde von in Buchstabe a genannten Personen oder Personenmehrheiten dadurch angreift, dass diese beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden,
2. einen in Nummer 1 Buchstabe a bis c bezeichneten Inhalt mittels Rundfunk oder Telemedien einer Person unter achtzehn Jahren oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder
3. eine Schrift (§ 11 Absatz 3) des in Nummer 1 Buchstabe a bis c bezeichneten Inhalts herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, bewirbt oder es unternimmt, diese Schrift ein- oder auszuführen, um sie oder aus ihr gewonnene Stücke im Sinne der Nummer 1 oder Nummer 2 zu verwenden oder einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen.

4(3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.
5(4) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt.
6(5) [1] Absatz 2 Nummer 1 und 3 gilt auch für eine Schrift (§ 11 Absatz 3) des in den Absätzen 3 und 4 bezeichneten Inhalts. [2] Nach Absatz 2 Nummer 2 wird auch bestraft, wer einen in den Absätzen 3 und 4 bezeichneten Inhalt mittels Rundfunk oder Telemedien einer Person unter achtzehn Jahren oder der Öffentlichkeit zugänglich macht.
7(6) In den Fällen des Absatzes 2 Nummer 1 und 2, auch in Verbindung mit Absatz 5, ist der Versuch strafbar.
8(7) In den Fällen des Absatzes 2, auch in Verbindung mit Absatz 5, und in den Fällen der Absätze 3 und 4 gilt § 86 Abs. 3 entsprechend.

Es sei angemerkt, dass ich zwischen ’69 und 2015 einen großen Sprung gemacht habe, da ich glaube, dass der letzte Eintrag den Zeitgeist der letzten zwanzig Jahre genügend fasst; für einen genaueren Einblick hier klicken. Unter dem aktuellsten Vergleich findet sich eine Übersicht seit der Reichsgründung.

Nehmen wir mal an, ich wäre – Gott verhüte! – Historiker, und kein Hobby-Blogger. Nehmen wir weiterhin an, ich wüsste aufgrund einer apokalyptischen Katastrophe nichts über Deutschland zwischen 1871 und 2015. Nehmen wir weiterhin an, ich hätte nur diese fünf Quellen, um Aussagen über die Zustände in eben diesem Land zu treffen; manch einer weiß dann, wie sich oftmals die von mir besonders verehrten Althistoriker fühlen.

Als Frühneuzeitler, wo man öfters mit solchen Gesetzesverordnungen („Policey-Verortnunghen“) zu tun hat, um dann auf die Zustände innerhalb einer Gesellschaft zu schließen, würde ich wohl zu folgenden Schlsusfolgerungen kommen.

– 1872 war Deutschland vermutlich ein recht ruhiger Staat, in dem der öffentliche Friede allgemein gewahrt war. Meinungsäußerung erfolgte ohne Probleme, solange man nicht ausfallend wurde. Für die Übertritte gab es ein Bußgeld oder eine Freiheitsstrafe. Das sehr einfach gefasste Recht war jedem Mann von der Straße verständlich und eingängig. Eine allgemeine, für alle geltende Ehre scheint für jedermann eine Rolle gespielt zu haben; denn ansonsten wäre alles ja nicht so selbstverständlich!

– 1876 hatte sich in Deutschland womöglich die Lage nicht sonderlich verändert. Allerdings ändert sich der Betrag. Geldverschlechterung? Preisänderung? Währungsreform? An der Zahl der Straftaten hat sich wohl eher weniger geändert, sonst hätte man auch etwas an der Freiheitsstrafe geändert.

– 1969 hat sich in Deutschland irgendetwas grundlegend gewandelt. Auf einmal wird das Strafmaß auf bis zu fünf Jahre erhöht. Von Gewalt- und Willkürmaßnahmen ist da die Rede. Hass gegen Teile der Bevölkerung. Warum nur Teile? Nach hundert Jahren scheint hier jedenfalls etwas ins Wanken gekommen sein. Bis dahin machte man sich nur strafbar, wenn man Volksteile gegeneinander aufhetzt, nunmehr ist es strafbar, wenn man sie verleumdet und beleidigt. Hat da eine bestimmte Ethnie die Macht übernommen, die sich durch solche Gesetze abzusichern versucht? Ähnlich wie damals die Franzosen in Italien, die es nicht mochten, wenn die Einheimischen sich über sie lustig machten? Fragen über Fragen!

– 1975 dasselbe Gesetz, aber man kann sich nicht mehr freikaufen. Zudem steht jetzt da etwas offiziell von „Volksverhetzung“ bei. Gab es da einen konkreten Fall zwischen 1969 und 1975, der zu diesen Maßnahmen greift? Ohne Geldsumme werden solcherlei Taten auf jeden Fall weniger toleriert als vorher. Was ist zwischen ’69 und ’75 passiert? Putsch in der Regierung?

– 2015. Wow. Als Neuzeitler würde ich ja behaupten, dass hier ein Bürokratisierungsprozess in Gang gesetzt wurde, der es ermöglichen sollte, dass nur noch Experten an Gesetze gelassen werden. So wie in der Renaissance, als man Juristen und Theologen von der Universität in den Regierungsapparat einbaute. Rationale Herrschaft nach Weber und so. War das Gesetz früher leicht verständlich und sehr einfach aufgebaut, glaubt man hier beinahe an ein Dokument, das der Magna Charta den Rang ablaufen will.

Was da so alles drin steht! Wenn also jemand zu irgendeiner irgendwie vorbezeichneten Gruppe gegen Gewalt aufruft, dann ist das nicht in Ordnung. Alle sind da dabei, nur irgendwie die einheimischen Deutschen nicht. Ich komme zurück auf die Theorie, dass Deutschland zwischen ’69 und ’15 von Franzosen erobert wurde, und diese sich wieder gegen die Einheimischen absichern wollten. Allein, wie das formuliert ist, müssen da Ausländer am Werk gewesen sein. Überhaupt sichert man sich gegen alles ab, wogegen man sich absichern kann. Wer auch immer 2015 in Deutschland geherrscht hat, er war sehr wenig gelitten. Und Meinungsfreiheit war wohl auch nicht mehr so gegeben wie in den 1870ern.

Besonderes Augenmerk wird 2015 auf eine Phase namens „Nationalsozialismus“ gelegt. Da davon 1975 noch nicht die Rede ist, muss dieser „Nationalsozialismus“ – dessen Verharmlosung bereits Straftatbestand ist – irgendwann zwischen 1975 und 2015 stattgefunden haben. Noch ein neuerlicher Regierungsumsturz in dieser Zeit, der Deutschland autoritärer machte? Da kann der Historiker nur spekulieren!

Fazit:

Deutschland war in den 1870ern noch ein recht liberales, meinungsoffenes Gesellschaftssystem, das dann aber immer mehr in autoritäre Gefilde abdriftete. Es ist zu vermuten, das ein wie auch immer gearteter Verwaltungsapparat nicht-deutscher Prägung etwa ab den ’70ern das Ruder übernahm (Nationalsozialismus?), denn nicht nur wird das Gesetz nun härter, sondern letztendlich auch unleserlicher.

Je einfacher ein Gesetz formuliert ist, desto eher richtet es sich an die große Masse; in diesem Sinne unterstützt das meine These, dass Rechtsprechung und Rechtsetzung ab dieser Zeit in immer weniger Hände wanderte, da man nun „unter sich“ als Experten äußerst ausgefeilte Rechtsätze verabschiedete, die man nur in der Administration verstehen konnte.

Spätestens 2015 musste in Deutschland blanke Anarchie herrschen, wenn man bereit war, so viel Papier für so viele mögliche Straftaten aufzuzählen. Dass der Paragraph „Volksverhetzung“ darüber prangt, lässt erahnen, dass die Regierung händeringend ihre Ordnungsgewalt durch harte Maßnahmen durchzusetzen versuchte. Das alles sind Anzeichen einer immer hilfoser werdenden, aber zugleich radikaleren und womöglich totalitären Auslegung des ursprünglich sehr kurzen und prägnanten Gesetzes.

Aber wie gut, dass ich kein Historiker bin, wir dafür aber viel mehr Quellen haben!

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