Samech, die Buchstütze – und davon, wie sie ins Leben kam
Dies ist der erste Teil der dreiteiligen Geschichte von „Samech, die Buchstütze, und ihre außerordentlich famosen Abenteuer im Wandregal des Rabbi Schmul“, einem palatinisch-jüdischen Kindermärchen
Wie allgemein bekannt ist, bestand Palatina im frühen Mittelalter nur aus dem Marktflecken der Città Nuova, der Neustadt, welche – von den Wassern des Rio und Mandro umspült – sicher vor den marodierenden Horden der Völkerwanderung und allen anderen Gefahren war, mochten es nun Räuber, Franken oder römische Steuereintreiber sein. Graf Hildebrandt, der letzte fränkische Adlige, der im Namen des Salierkaisers Heinrich III. über Palatina herrschte, bemerkte in dieser Zeit wie stark die lokalen Familien – allen voran das Geschlecht der Testabella – immer mehr Reichtum und Macht anhäuften und sogar eigene Truppen aushoben oder ihre Familiensitze mit Türmen und Zinnen befestigten.
Hildebrandt fürchtete, dass die Familien sich gegen seine Herrschaft erheben konnten, aber ihm mangelte es an Geld. Er wagte es nicht, gerade seine größten Feinde um Kredite zu bitten, und verhandelte daher mit einer Gruppe römischer Juden. Diese lebten bereits seit der Zeit des Rabbi Schlomo im Stadtgebiet Palatinas, nicht jedoch auf der Insel. Die Juden wollten daher nur Geld verleihen, wenn sie dafür Grund und Boden erhielten, am besten nahe der Markthalle, um ihre Kredite besser an die dortigen Händler verleihen zu können. Das wollte der Graf nicht zulassen und wehrte sich. Da lud ihn der Rabbiner in ein Gasthaus ein, und verwickelte ihn in ein Gespräch, das – aus welchen Gründen auch immer – in ein Wettrinken ausartete, bis der Rabbiner den Grafen unter den Tisch getrunken hatte, und letzterer in seinem Rausch dem Juden eine Urkunde ausstellte, die ihm ein Stück Land zuwies: es handelte sich um einen Garten mit einer alten Buche, die dort wuchs.
An diese Buche ritzte der Rabbiner in Hebräisch die Worte: Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie es schon dem Grafen erging, was die Christen davon abschrecken sollte, dieses Territorium zu betreten, da dem Rabbinergeschlecht von Palatina seitdem die Trinkfreudigkeit wie -festigkeit gleichermaßen im Blute lag.
Dies war der Anfang des Judenviertels von Palatina, das seit diesem Tag auch „An der Judenbuche“ genannt wurde. Dreihundert Jahre lang lebten die Juden im Einklang mit den Christen: als die Testabella Hildebrandt stürzten, beließen die neuen Herren den Juden ihre Rechte. Als die Palatiner in den Orienthandel einstiegen, finanzierten die Kaufleute ihre ersten Reisen mit jüdischen Krediten. Und bis zum Kreuzzug von Damiette, nach dessen Ende die Kreuzritter vom Hospitaliter-Orden ihr Spital eröffneten, galten die Juden als die besten Ärzte der Stadt.
Aber dann drohte dem Volke Israels eine große Probe, denn die Malpazzi stürzten die Republik und bauten ihre eigene Herrschaft als Markgrafen von Palatina auf. Die ersten drei Herrscher aus dem Hause Malpazzi – Ezzo I., Galeazzo I. und Filippo – kümmerten sich nicht weiter um die jüdischen Belange.
Der vierte Herrscher aber, Ezzo II., galt als Tyrann. Die Palatiner nannten ihn den „Grausamen“. Zum Tode Verurteilte ließ er von seinen Hunden in der Öffentlichkeit zerfleischen. Argwohn, Paranoia und Brutalität zeichneten seine Regierung. Als das Volk einmal auf den Ratsplatz lief, und „Milde! Friede! Gnade!“ ausrief, ließ Ezzo diese Worte per Dekret verbieten. Wer sie dennoch aussprach, wurde wegen Volksverhetzung zum Tode verurteilt. Da insbesondere der Klerus in seinen Messen von „Frieden“ faselte, sah Ezzo das als Grund genug an, um die Kirche in Palatina zu verbieten.
Dies hätte den Einwohnern an der Judenbuche ganz egal sein können, wenn der Markgraf nicht auch noch den Bau eines neuen Palastes befohlen hätte. Der Herrscher wollte das alte Rathaus abreißen und eine Residenz an dieselbe Stelle setzen, welche mit den Fürstensitzen Italiens konkurrieren konnte. Die Juden belastete er daher mit einer deftigen Sondersteuer. Und nicht genug: wer die Steuer nicht bezahlen konnte, der sollte enteignet werden; wer aber nichts mehr besaß, das er veräußern konnte, sollte sein Haus und Grundstück an den Staat abgeben; und wer selbst das nicht mehr hatte, wanderte in den Schuldenturm, bis ein Verwandter für ihn bezahlte.
Ezzos Strategie erschien offensichtlich: er wollte das ganze Judenviertel, das nach drei Jahrhunderten in günstiger Nähe zum Markt lag, und auf jeder Auktion ein schönes Sümmchen Geld eingebracht hätte, für sich und den Staat beschlagnahmen, um es dann den reichen Kaufleuten von Palatina zu verkaufen. Damit hätte er gleich doppelten Gewinn eingefahren: einmal über die horrenden Steuern, ein zweites Mal über den Verkauf der Grundstücke. Die Juden dagegen hätten alles verloren.
Der Vorsteher der jüdischen Gemeinde, der geachtete und weise Rabbiner Schmul ben Schmul (auf palatinisch: Sciumello), konnte dies natürlich nicht zulassen, und versuchte in der Tradition seiner Vorfahren den Malpazzi zu überreden.
Leider ließ sich Ezzo jedoch auf kein Wettrinken ein, was die Chancen der Juden erheblich schmälerte.
Nachdem diese übliche Strategie der Juden fehlgeschlagen war, mit der sie noch immer ihren Hals aus der Schlinge hatten retten können, versammelte sich die ganze Gemeinde an der Judenbuche und beriet über die Lage. Die Stimmung war angeheizt; denn es ging das Gerücht um, dass die Steuereintreiber noch in dieser Woche kommen sollten, um die erste Rate einzuziehen. Ein Pfandleiher meinte:
»Solange sie noch nicht da sind, können sie uns nichts nehmen. Also lasst uns alles zusammenräumen, was wir haben und damit verschwinden, bevor wir alles verlieren!«
Ein Drittel der Juden sprach sich für diesen Vorschlag aus. Ein zweites Drittel dagegen schloss sich den Worten des Arztes Jehuda ben David (auf palatinisch: Medico Giuda) an:
»Wir haben hier immer gelebt und werden auch weiterhin hier leben. Ein schlechter Herr kann nicht das zerstören, was hundert vor ihm und hundert nach ihm getan haben und tun werden. Wir müssen nur durchhalten.«
Das letzte Drittel der Gemeinde blieb unentschieden. Da so kein Beschluss gefällt werden konnte, vertagte man die Entscheidung.
Rabbi Schmul wusste, in welcher Gefahr seine Leute schwebten, und zog sich in den Keller der Synagoge zurück. Denn der Rabbi hatte in seiner Jugend viele weise Gelehrte des jüdischen Glaubens aufgesucht, und dabei in den Städten jenseits der Alpen auch die Kunst und Mystik der Kabbalah erlernt. Diese Geheimlehre gaben die Rabbiner nur in seltenen Fällen an ihre besten Nachfolger weiter. Wer sie beherrschte, sollte Gott näher kommen; der Weg dahin führte über Geheimnisse und mystische Formeln, die in den jüdischen Zahlen oder Buchstaben lagen.
Der Rabbiner hatte aber dieses Wissen bisher nie genutzt; er selbst behauptete, dass er sie bisher auch nicht gebraucht habe. Tatsächlich aber hatte sich Schmul bereits in seinen jungen Jahren so untalentiert gezeigt, dass seine Meister es aufgegeben hatten, ihm alle Geheimnisse beizubringen, da sie ansonsten eine Katastrophe fürchteten, die das ganze Volk Israel vom Erdboden hätte tilgen können (und womöglich auch den ein oder anderen Goi).
Doch nun, in dieser Stunde der Bedrohung, suchte der Rabbiner nach seinen alten Büchern, und richtete den Keller für ein Ritual an. Denn die Alten sagten, dass auch Adam, der erste Mensch, letztendlich nur ein Lehmklumpen gewesen sei, dem Gott das Leben eingehaucht hätte. Es ging die Erzählung um, dass ein Kollege Schmuls dergleichen auch in Worms geschafft hätte. So ließ er nach seinem Neffen, Cohen (auf palatinisch: Cohen)* schicken, der ihm vom Flussufer eine Schubkarre Lehm bringen sollte. Danach warteten sie bis die Planeten, die Sterne und der Mond in der richtigen Konstellation standen.
Als es soweit war, flackerten Lichter des Nachts aus der alten Synagoge, in der Onkel und Neffe das kabbalistische Ritual vollzogen. Siebenmal ging der Neffe um den Lehmklumpen herum, und der Rabbi sprach die Zauberworte:
»Lamed! Mem! Nun! Samech…!«
Dummerweise stolperte der Neffe bei genau diesen Worten über den Lehmklumpen, rammte den Rabbiner – und stieß ihn zu Boden. Ein Blitzen knisterte durch die Synagoge, wonach mit einem Schlag alle Kerzenlichter im Raum erloschen. Schmul irrte durch die Dunkelheit, stieß ein Buchregal um, und konnte nur mit Mühen eine einzelne Kerze entzünden. Das feine Licht glitzerte auf dem nassen Lehm. Erwartungsvoll hob er an:
»Golem! Erhebe dich!«
Doch der Lehmhaufen bewegte sich nicht. Noch einmal rief Schmul:
»Golem! Ich habe dich geschaffen! Du sollst mir dienen, um das Volk Israel vor seinen Feinden zu beschützen!«
Cohen trat gegen den Lahmhaufen, aber der rührte sich immer noch nicht. Bestürzt musste der Rabbi feststellen, dass sein Plan misslungen war. Verärgert warf er das Buch mit den kabbalistischen Geheimnissen quer durch den Raum, und fluchte über seine eigene Unfähigkeit. Er wollte gerade sein Schicksal und das seiner ganzen Gemeinde betrauern, und seinem Neffen auftragen, den Auszug der Juden aus Palatina anzuführen – da erklang plötzlich ein Geräusch.
Erwartungsvoll wandten sich Onkel und Neffe zum Lehm:
»Golem! Bist du es?«
Doch statt tönerneren Füßen, die über den Kellerboden grollten, vernahmen sie ein hölzernes, zahmes Tocken. Der Rabbi rieb sich die Augen, als die Buchstütze aus dem Regal gehorsam vor dem Lehmhaufen Haltung annahm.
Es war nur eine ellengroße Buchstütze aus Nussbaumholz. In der Form ähnelte sie einem einfachen Dreieck.
Ein blöder Otter zierte das Holz.
Schmul war immer noch zu baff, als etwas sagen zu können, denn zum ersten Mal hatte er etwas mit Erfolg gezaubert. Cohen nahm dagegen die kleine Buchstütze in die Hand, und hielt sie dem Onkel vor:
»Das soll der mächtige Golem sein?!«
»Besser als nichts«, meinte der Rabbi kleinlaut.
»Das Ding muss doch nur hinfallen und ist hinüber – wie soll eine Buchstütze unsere Judenstadt retten?«
»Es ist immer noch eine Golem-Buchstütze, junger Mann!«
Der Rabbi beharrte auf seiner großartigen Leistung und riss die Buchstütze eifersüchtig an sich. Cohen warf ein, ob es nicht besser wäre, es mit dem Golem vielleicht noch einmal zu versuchen; aber der Rabbi verwies darauf, dass die Sternenkonstellation erst wieder in ein paar Wochen und Monaten perfekt sei, um es neuerlich zu probieren.
»Also müssen wir so lange mit Samech auskommen?«
»Samech?«, fragte der Rabbi nach.
»Nun, da er bei diesem Wort ins Leben gebracht wurde, dachte ich…«
Da wurde die Buchstütze sehr unruhig in Schmuls Hand, und pickte Cohen mit dem spitzen Ende in den Finger. Rabbi Schmul verstand sofort:
»Ich glaube, „er“** ist eine „sie“.«
Der Neffe wirkte irritiert.
»Seit wann haben Buchstützen denn Geschlechter, Meister?«
»Oh, mein lieber Junge«, hob der Rabbi beide Hände, »Samech ist das Zahlwort für 60! Schaff also den Lehm aus dem Keller, bevor wir uns in einer Diskussion über die möglichen Geschlechter von Buchstützen verlieren!«
Cohen tat wie geheißen und fragte nicht weiter nach. Die Buchstütze aber hieß ab diesem Tage Samech, und sollte als wundersame Golem-Buchstütze von da an über das Buchregal des Rabbiners und die ganze jüdische Gemeinde Palatinas wachen.
Ende des Ersten Teils.
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*Es ist nicht ganz gesichert weshalb, aber im palatinischen Judenviertel gab es immer einen Cohen. Manchmal auch mehrere.
**Im Italienischen ist die Buchstütze männlich.