Winklers Welt

22. September 2015
Kategorie: Alltägliche Gedankenstreifzüge | Europa | FAZ-Kritik | Freiheit | Historisches | Machiavelli | Medien | Philosophisches | Regionalismus

Da ich wieder einmal in die Wonnen der Nicht-Kommentierung komme (vermutlich hat die FAZ auch hier aus gutem Grund den Beitrag gesperrt), darf meine Kulturklause mal wieder für einen Gedankengang bezüglich Geschichte und ihrer Vergewaltigung herhalten.

Nach dem Tod Wehlers ist mir das andere „W“ der deutschen Geschichtswissenschaft verblieben, gegen das ich immer noch opponieren kann; und selbst wenn es Heinrich August Winkler nicht gäbe, wäre da immer noch Herfried Münkler für mich. Gut, Münkler ist kein Historiker, sondern Politikwissenschaftler, aber als Anwalt Machiavellis müsste ich einen Prozess gegen den Mann anstrengen.

Dass alle drei genannten nur Wissenschaftler dem Namen nach sind, und eher die Rolle von Volkserziehern und der etablierten Politik zuarbeitende „Experten“ sind, wird spätestens dann deutlich, wenn jemand wie Winkler auf der Konferenz „Denk ich an Deutschland“ auftritt, und eigentlich nur das Gesagte bereits genügend fundamentiert, statt neue Perspektiven zu eröffnen.

Ich beziehe mich auf die in der FAZ veröffentlichte Rede.

Auf den sechs Seiten fände ich so einiges, was kritikwürdig wäre, allerdings möchte ich mich auf einen Punkt beschränken. Er sagt außerordentlich viel über die Weltsicht Winklers, und soll hier gebührend betrachtet werden. Beginnen wir mit der Eingangsformel:

Zu den Schlagworten unserer Zeit gehören die „Werte Europas“ oder die „europäischen Werte“, auf die wir uns nicht nur in feierlicher Rede so gern berufen. Doch der Begriff verdient es, hinterfragt zu werden. Denn im geographischen Sinn hat Europa nie eine Wertegemeinschaft gebildet. Präziser ist der Begriff „westliche Werte“.

Hier kann jeder Historiker im Studium bereits lernen, wie man sich seine Hausarbeit auf der Ausgangslage aufbaut, wie man sie wünscht: einfach alle unerwünschten Fakten weglassen, die einem die eigene These zerstören könnten. Es existieren a priori keine europäischen Werte. Nur westliche. Heißt auch: Europa selbst hat nur übergeordnete Werte, die es mit Amerika teilt. Alles, was davor passiert, wird zwar brav aufgezählt, spielt aber keine Rolle.

Zweitausendjähriges, antikes Erbe? Jahrhunderte christlicher Prägung? Gemeinsame, verbindende Geschichte? Zuerst in der Form einer res publica christiana, wie sie von den Zeitgenossen des Mittelalters gesehen wurde, oder eines Europa-Gedankens, der spätestens seit Utrecht 1712 auch Eingang in den Vertragstext fand? Alles unwichtig, sagt Winkler. Denn eigentlich geht es erst danach los:

Die Ideen der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, waren die politische Summe der Aufklärung. Zusammengenommen bilden sie das, was ich das normative Projekt des Westens nenne. Es war, salopp gesagt, eine transatlantische Koproduktion. Am Maßstab dieses Projekts mussten sich fortan alle Staaten messen lassen, die sich zu diesen Ideen bekennen. Meine These ist, dass sich die Geschichte des alten und des neuen, des europäischen und des überseeischen Westens (zu dem neben den Vereinigten Staaten und Kanada auch Australien und Neuseeland gehören) zu einem guten Teil als Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung dieses Projekts beschreiben lässt.

Für Winkler ist „der Westen“ nur die Aufklärung. Und weil nur diese Aufklärung in Form der beiden Revolutionen tatsächlich ihre Ideale vertreten kann, ist alles außerhalb dessen nebensächlich. Staaten müssen sich daran messen lassen, wie gut sie die Werte vertreten. Der Westen, das ist in Winklers Augen um 1800: Frankreich und die USA. Da müsste man mal kritisch nachfragen, was denn mit Großbritannien ist, welches traditionell auch zum Westen zählt, aber beide Revolutionsländer und ihre tollen Werte ganz dezidiert bekämpft? Ach, diese Briten. Schaffen es einfach ohne Revolution, westlich zu werden.

Es wird noch amüsanter:

Es gab europäische Länder, die kulturell zum Westen gehörten und sich doch lange gegen einige der politischen Konsequenzen der Aufklärung wie die unveräußerlichen Menschenrechte, die Volkssouveränität und die repräsentative Demokratie, wehrten.

Ha! Wir lassen uns das noch einmal auf der Zunge zergehen: es gibt also Länder, die kulturell zum Westen gehörten, aber nicht politisch. Sehr gut erkannt. Aber was ist denn Europa anderes, als eine Kulturgemeinschaft? Ist Kultur austauschbar? Und sind nicht-europäische Kulturen überhaupt für dieses Projekt empfänglich? Winkler hätte aus diesem Gedanken weitaus mehr machen können. Tut er aber nicht (würde auch keiner, wenn er etwas zu verlieren hat). Wenn jetzt aber „ganz bestimmte“ Kulturen nur für westliche Werte empfänglich sind… setzt das nicht wieder voraus, dass es da eine Kulturgemeinschaft (!) gibt, die nun einmal anders ist, als der Rest?

Nennen wir diese Kulturgemeinschaft einfach mal… hm, Stierliebhaberin ist zu lang, bleiben wir bei Europa. Und was macht Kultur aus? Dass sie sich von anderen abgrenzt. Durch Werte. Beispielsweise. Man könnte das auch „europäische Werte“ nennen. Auf die trifft die Aufklärung nämlich auf ziemlich fruchtbaren Humus. Zufall?

Muss. Sonst wäre Winklers Hypothese, dass es nur westliche, aber keine europäische Werte gäbe, widerlegt.

Bleiben wir weiter in Winklers wunderbarer Welt und eröffnen das Panoptikum der Sonderwege:

Eines dieser Länder war Deutschland, das erst nach der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg seine Vorbehalte gegen die politischen Ideen des Westens aufgab. Auch Italien wurde erst nach 1945 eine parlamentarische Demokratie westlicher Prägung, Portugal und Spanien erst nach der Überwindung ihrer nationalistischen und autoritären Diktaturen Mitte der siebziger Jahre.

Wir lernen: um 1800 bestand der Westen aus zweieinhalb (gut, Britannien, weil du es bist: drei) Ländern. Alle andere waren nicht westlich. Und das war richtig schlecht. Und alle waren sie auf dem Holzpfad. Richter Gnadenlos spricht sein Urteil:

Deutschland: Sonderweg.
Italien: Sonderweg.
Spanien: Sonderweg.
Portugal: Sonderweg.
Balkan: Sonderweg.
Alles in Osteuropa: Sonderweg.
Russland: Immer noch Sonderweg. Aber da plädiert ja Winkler auch für eine hoffentlich bald eintretende Erleuchtung.

Also, ich kann mich ja irren, aber mir scheint, der „Sonderweg“ war europäisch gesehen eher die Regel und die Aufklärung die Ausnahme. Ganz zu schweigen davon, dass selbst das absolut westliche Frankreich im 19. Jahrhundert größtenteils autoritär regiert wurde, also auch hier die golden-aufgeklärte Einbahnstraße immer wieder ein paar Sackgassen und Abzweigungen nahm. Auch danach war das gar nicht so sicher. Vichy lässt grüßen.

Da fällt doch etwas ins Auge, wenn es um Jalta geht, also der Aufteilung Europas in zwei Sphären:

Zu einem vorläufigen Abschluss kam das Ringen um die Aneignung oder Verwerfung der politischen Ideen von 1776 und 1789 innerhalb des Westens erst nach den friedlichen Revolutionen von 1989. Durch sie konnte sich jener Teil des alten Okzidents, der 1945 im Gefolge der Beschlüsse von Jalta der sowjetischen Herrschaftssphäre zugeschlagen worden war, der politischen Kultur des Westens öffnen: eine tiefe Zäsur in der Geschichte Europas – eine der tiefsten seit der Französischen Revolution 200 Jahre zuvor.

Warum passivisch? „Zugeschlagen worden war“. Herr Winkler, sonst immer ganz schnell, wenn es darum nennt, den Dämon zu nennen, druckst plötzlich herum. Also, wer saß denn da bei Jalta zusammen? Churchill, Roosevelt und Stalin. Oh, da sind ja zwei vom „Westen“ dabei, die einfach mal halb Europa an die Sowjets verscherbeln.
Aber gut, die Sowjets sind auch von der Aufklärung erleuchtet. Wer mal Marx zu Ende gedacht hat, der weiß, dass es nur die logische Fortsetzung dessen ist, was die Aufklärer gedacht haben. Denn wer den neuen Menschen will, muss manchmal die Leute dazu zwingen. Manchmal reicht da Bildung, manchmal braucht es den Staat, und wenn alles andere nicht hilft, dann der Gulag. Das ist alles notwendig, um das Ende der Geschichte zu erreichen.

Und genau da treffen sich Winkler und Marx. Denn auch Winkler glaubt an das vom Menschen selbst herbeigeführte Ende, indem alle Menschen auf der Welt glücklich und zufrieden werden, wenn denn alle erst einmal die Aufklärung gefressen und die Demokratie amerikanischer Prägung übernommen haben. Glauben Sie nicht? Winkler entgegnet:

Die chinesische „Charta 08“, wesentlich mitverfaßt vom Friedensnobelpreisträger des Jahres 2010, Liu Xiaobo, und unterzeichnet von über 5000 Künstlern und Intellektuellen, ist wie die Menschenrechtserklärungen des späten 18. Jahrhunderts ein Manifest aus dem Geist der Aufklärung und ein Text von historischem Rang.

Nun denn, es war schon immer eine ganz besondere Eigenart des Westens, kleine Gruppierungen im Ausland – ob nun in Tunesien, Ägypten, Russland, Syrien oder China – als bedeutend anzuerkennen, ohne die Stimmung im Volk wahrzunehmen. Ist ja nicht so, als wären wir da in den letzten Jahren schon deftig auf die Nase gefallen. Aber das sind nur Rückschläge auf dem Weg zum Kant’schen Weltstaat (oder doch dem von Marx?).

Wir halten mal fest: da waren Staaten, denen ging es ganz schlecht, weil sie nicht Teil des Westens waren, den die USA begründete (denn Frankreichs Revolution ist – meines Wissens nach – nicht so erfolgreich ausgegangen, außer, man hält die weitestgehende Zerstörung Europas durch einen korsischen Diktator für das höchste aller Gefühle). Daraufhin machte der „Westen“ sich auf, um als messianische Heilsgestalt allen anderen, zurückgebliebenen Ländern in Europa mit seinem Licht das Heil zu bringen. Es ist dasselbe wie bei Religionen: die Mission hört bekanntlich nie auf.

Wie hätte man eigentlich Leute um die vorletzte Jahrhundertwende genannt, die ein Land als besser als alle anderen darstellen, von Werten reden, die andere Länder von ihrem schrecklichen Schicksal erlösen und gewissermaßen das alte „Tu regere imperio populos, Romane!“* anderen Ländern überstülpen? Aber stimmt ja, diese barbarischen, dunklen Zeiten liegen ja hinter uns. Aufklärung und so…

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*Dir, Römer, obliegt es die Völker zu beherrschen!

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