Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Regionalismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, die Medien und die politische Elite, Cameron und Rajoy, französische Zentralisten und deutsche Preußen.
Seit Jahren werde ich für meine politische Gesinnung belächelt. Gerade in Deutschland, das keine starke, regionalistische Partei hat, ist man immun und ignorant gegenüber den europaweiten Bewegungen, die seit den 80er Jahren entstanden sind, wachsen, und sich immer mehr Gehör verschaffen. Dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum fiebere ich seit mehr als einem Jahr entgegen; ebenfalls eine Spinnerei, die kaum ernst genommen wurde.
Bis letzte Woche eine einzige, kleine Umfrage einschlug wie eine Bombe. Plötzlich war auch die deutsche Medienlandschaft aus dem Häuschen: was ging nur in den Köpfen dieser Schotten vor sich? War es auf einmal tatsächlich möglich, dass sich ein Teil des Vereinigten Königreichs abspalten würde?
Diese Gedankengänge sind typisch, verräterisch und tadelnswert. Zuerst einmal bezeugen sie das engstirnige Denken der Journalisten- und Politikerkaste: es kann nicht sein, was nicht sein darf! So wenig, wie die IS(IS) Terroristen aus dem Nichts aufgetaucht sind, sind es die schottischen Regionalisten. Die Medien haben nur nicht über sie berichtigt. Und gleich, wie viele es sind: mindestens 40% unterstützen ein unabhängiges Schottland. Das ist keine Minderheitsentwicklung, sondern eine Volksbewegung, die nicht ernst genommen wurde.
Es grenzt hier an unermessliche Hybris und Arroganz, die schottische SNP nur als Versammlung merkwürdiger Folkloristen zu sehen. Der Wunsch nach Unabhängigkeit war immer da und ist nicht neu. Aber die Elite hat in ihrem eigenen Elfenbeinturm diese Entwicklung sowohl diesseits als auch jenseits des Ärmelkanals geleugnet. Nur, weil man darüber nicht berichtet, und nur, weil englische Politiker sagen, Schottland werde sich nie abspalten, heißt dies lange noch nicht, dass dies die Realität ad absurdum führt.
Zweitens zeugt es von englischer Borniertheit. Die Schotten hatten ursprünglich auf drei Wahlmöglichkeiten bestanden; nämlich auf eine dritte, die den Verbleib beim UK garantierte, zusammengehend mit Autonomie. Cameron hat diese Option ausgeschlagen; entweder Ja oder Nein, mehr nicht. Diese Strategie sollte dazu dienen, dass er sich jedweder Privilegien an Alba entledigen, und die Unabhängigkeitsbewegung auf Jahre schwächen konnte, da er überzeugt davon war, es werde nie, niemals nie zu einem „Yes“ kommen. Dieses Pokerspiel hat dazu geführt, dass man sich nicht einmal Gedanken in London machte – nicht einmal theoretische! – was bei einer schottischen Unabhängigkeit geschehen konnte.
Es ist insbesondere diese Hybris gegenüber dem eigenen Volk, welche immer mehr Schotten dazu ermuntert, einem „Yes“ zuzustimmen, obwohl sie die Politik der SNP nicht gutheißen. Die Arroganz der Regierenden gegen die Regierten trägt hier Früchte. Und wenn nun, in der letzten Woche, die Engländer erst aufwachen, wird das einige Schotten erst Recht dazu bewegen, Cameron „das Herz“ zu brechen, wie dieser jammernd beteuerte.
Es ist ungewiss, wie das Votum diese Woche ausgehen wird. Aber bereits jetzt hat sich das UK gründlich geändert, denn die Waliser und Engländer selbst fragen sich, warum die Schotten gegen den Londoner Zentralismus rebellieren dürfen, sie selbst aber nicht. Im Wind liegt der Duft von Dezentralisierung. Wenn Nigel Farages UKIP dabei in der ersten Linie steht, ist das nicht verwunderlich – und droht damit den Tories, noch mehr Stimmen zu rauben.
Sollte Schottland wirklich die Union auflösen – und hier finden wir die nächste Londoner Propaganda: Schottland spaltet sich mitnichten ab, sondern löst eine Union auf, die erst das Vereinigte Königreich zum Leben erweckte – wird das für England weit größere Probleme bedeuten. Labour wird seine größte Stütze verlieren und vielleicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Der Konkurrent der Conservative Party wird die UKIP: Englands Kurs wird noch anti-europäischer, womöglich steht ein Austritt an. Die Engländer werden sich noch wünschen, eine Währungsunion mit Schottland zu schließen, damit das Pfund nicht ins Bodenlose sinkt. Und die NATO wird kaum auf die strategische Bedeutung Schottlands in der Nordsee verzichten wollen; im Gegensatz zum öffentlichen Bild ist Schottland nicht der Bittsteller. Die anderen werden stattdessen noch zu Boden kriechen.
Und wenn Schottland verbleibt? Selbst dann haben die Schotten für so einen Knall gesorgt – London hat bereits Sonderrechte zugesagt – dass die Reform nicht stillstehen wird. Und sollte Großbritannien aus der EU austreten, wird Schottland sich womöglich nicht an diesen Beschluss halten wollen, und ein neues Referendum fordern. Spätestens dann ist Schottland frei. Und dem schottischen Löwen wird der flämische folgen – und irgendwann auch der venezianische.